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Die Entstehung der Kantischen Urteilstafel.

Ein Beitrag zur Geschichte der Logik.1)

Von Dr. phil. P. Hauck in Metz.

In Kants Erkenntnistheorie spielt die Tafel der Urteile eine bekannte, hochbedeutende Rolle. Aus den Urteilsarten werden in der transscendentalen Logik die Kategorien abgeleitet, und aus der Vollständigkeit seiner Urteilstafel schliesst Kant, „dass der Verstand durch gedachte Funktionen völlig erschöpft, und sein Vermögen dadurch gänzlich ausgemessen" sei, dass er also auch „die wahren Stammbegriffe des reinen Verstandes, die Kategorien“, vollzählig daraus gewonnen habe. Eigentlich müsste man nun annehmen, dass die zu Grunde gelegte Tafel der Urteile schon lange fester Besitz der Logik gewesen sei, dass sie sich durch Jahrhunderte unverändert fortgepflanzt habe und zwar in der Weise, dass niemand mehr es versuchen könnte, ein so fest und klar in sich selbst begründetes Lehrstück anzufechten. Nur dann dürfte sich Kant ohne weiteres auf dasselbe in einem so wichtigen Abschnitt seiner Philosophie berufen. Nun aber ist in der antiken und mittelalterlichen ebenso wie in der vorwolfschen Logik nicht die Kantische Urteilstafel, sondern nur die bekannte Einteilung des Aristoteles zu finden. Sie ist also ein Werk des achtzehnten Jahrhunderts. Es ist daher für eine unparteiische Beurteilung der ganzen Kategorienlehre der Kritik der reinen Vernunft von hohem Interesse, zu untersuchen, ob Kant dieselbe wirklich als fertig übernommen hat, oder ob es in wesentlichen Punkten sein eigenes Werk ist, dem er so unbedingtes Vertrauen schenkt.

1) Die hier veröffentlichte Arbeit bildete ursprünglich in ihrem Kern einen Teil meiner auf Anregung des Herrn Professor Dr. Windelband eingereichten Dissertation: „Urteile und Kategorien. Eine kritische Studie zu Kants transscendentaler Logik". Da sie aber mit dem Ganzen wenig zusammenhing, hielt ich es für angebracht, sie unabhängig davon und daher auch in etwas veränderter Gestalt zu veröffentlichen,

Er sagt gelegentlich selbst von der Urteilstafel in den Prolegomena:1) „Hier lag nun schon fertige, obgleich noch nicht ganz von Mängeln freie Arbeit der Logiker vor mir, dadurch ich in den Stand gesetzt wurde, eine vollständige Tafel reiner Verstandesfunktionen, die aber in Ansehung alles Objektes unbestimmt waren, darzustellen." Aus dieser Äusserung scheint hervorzugehen, dass Kant sich bewusst war, in einigen Punkten die Urteilstafel doch selbständig gestaltet zu haben. Wir sind daher verpflichtet, anzunehmen, dass er nicht unbedingt an die historische Überlieferung glaubte, sondern infolge eigener Überlegung sich von ihrem Werte Rechenschaft zu geben suchte, wodurch er sicher gelegentlich gezwungen wurde durch die Beurteilung des Verhältnisses eines Urteils zu einer bestimmten Kategorie. Doch ehe wir Schlüsse ziehen, müssen wir die Thatsachen klargelegt haben.

Dazu ist es nicht nötig, eine vollständige historische Übersicht über die einzelnen Formen der Urteile zu geben, sondern aus allbekannten Gründen genügt es für unsern Zweck, Umschau zu halten in der logischen Litteratur von Wolff etwa bis Kant und auf frühere Perioden nur dann zurückzugreifen, wenn jene den erwünschten Aufschluss nicht giebt. Auch ist bekannt, dass als Grundlage für seine Logik Kant den „Auszug aus der Vernunftlehre" von G. Fr. Meier (1752 und 1760) verwendete, wie er selbst in dem von ihm 1765 herausgegebenen „Programm zur Ankündigung seiner Vorlesungen" mitteilt. Die Quellen Meiers sind aber Alex. Gottlieb Baumgartens „Acroasis Logica" und Wolffs "Philosophia rationalis sive Logica". Neben dieser Entwickelungsreihe kommt dann vor allem Lambert in Betracht mit seinem „Novum Organon" (1764). Andere Lehrbücher der Logik werden nur gelegentlich heranzuziehen sein.

I. Urteile der Quantität.

Über die Quantität der Urteile äussert sich G. Fr. Meier in § 301 des oben erwähnten Werkes folgendermassen: „Das Subjekt eines Urteils ist entweder ein einzelner oder ein abstrakter Begriff. Jenes ist ein einzelnes (iudicium singulare), dieses ein gemeines Urteil (iudicium commune), welches das Prädikat entweder von allen unter dem Subjekte enthaltenen oder von einigen bejaht

') S. 116. Ausgabe von K. Schulz (Reclam).

oder verneint. Jenes ist ein allgemeines (iudicium universale), dieses ein besonderes Urteil (iudicium particulare). Insofern ein Urteil entweder ein einzelnes oder ein gemeines ist, schreibt man ihm eine Grösse zu (Quantitas iudicii)." Genau dieselbe Einteilung hat Baumgarten in den §§ 221-224 seiner Acroasis Logica.

Wir haben hier allerdings schon drei Urteilsformen der Quantität, iudicia singularia, particularia und universalia, also genau dieselben, auch der Benennung nach, wie bei Kant, jedoch mit dem ganz bedeutenden Unterschiede, dass bei diesem die drei Formen als koordinierte Arten erscheinen, während bei seinen Gewährsmännern nur zwei auf derselben Stufe stehende Formen vorhanden sind, nämlich iudicia singularia und iudicia communia. Erst als Arten der letzteren erscheinen das iudicium particulare und universale. Drei koordinierte Formen der Quantitätsurteile hat aber auch schon Wolf, wenn er § 240 der Philosophia rationalis sagt: „Subjectum propositionis vel est genus quoddam vel species vel individuum." Lambert dagegen 1) teilt wieder in allgemeine und besondere Sätze, so dass dann die einzelnen unter die allgemeinen fallen, weil auch bei ihnen das Prädikat dem ganzen Umfange des Subjektes zukommt. Auf Lambert also geht Kants Bemerkung in der Kritik der reinen Vernunft, 2) in welcher er ausführt: „Die Logiker sagen mit Recht, dass man beim Gebrauch der Urteile in Vernunftschlüssen die einzelnen Urteile gleich den allgemeinen behandeln könne. Denn eben darum, weil sie gar keinen Umfang haben, kann das Prädikat derselben nicht bloss auf einiges dessen, was unter dem Begriffe des Subjektes enthalten ist, gezogen, von einigem aber ausgenommen werden."

Aus dieser rein thatsächlichen Feststellung der Beziehungen folgt zunächst, dass Baumgarten und Meier Wolff gegenüber eine Verbesserung einführen wollen. Dies ist ihnen insofern auch gelungen, als sie statt der inhaltsreichen Stufen Einzelwesen, Art und Gattung rein quantitative Verhältnisse einführen. Betrachtet man die Urteile unter diesem Gesichtspunkte, so wird sowohl im partikularen wie im universalen Urteil unter das Subjekt eine Mehrzahl von Dingen bezogen, im Gegensatze zu der Einzahl des singularen Urteils. Meier ist also von diesem, allerdings etwas

1) Nov. Org. S. 122.
2) Ausg. Kehrbach S. 90.

"

äusserlichen Standpunkte aus, nicht im Unrecht, wenn er die beiden erstren Urteile als iudicia communia zusammenfasst. Einen anderen Weg der logischen Vereinfachung beschreitet dann Lambert, und er erweist sich als der scharfsinnigere Denker. Er subordiniert iudicia singularia und universalia dem allgemeinen Urteil. Aus welchem Grunde er dies thut, hat Kant sehr wohl eingesehen, da er zugiebt, dass man beim Gebrauche der Urteile in Vernunftschlüssen die einzelnen Urteile gleich den allgemeinen behandeln könne." Beide Urteile nämlich, „Der Mensch ist sterblich" und Alle Menschen sind sterblich" sind, als Obersätze eines Schlusses betrachtet, von gleich umfassender Allgemeinheit, indem die Aussage in beiden von dem ganzen Umfange des Subjektes gilt. Auch wird man leicht zugeben, dass es der damaligen formalen Logik am besten entspricht, die Urteile zu betrachten und einzuteilen nach ihrer Verwendbarkeit, z. B. der Quantitätsurteile, in Schlüssen, wenn auch für unsere heutige Logik andere Gesichtspunkte an erster Stelle in Betracht kommen würden.

Aber trotzdem nimmt Kant nicht die Lambertsche Zweiteilung auf, sondern macht die Meiersche Gliederung dadurch zu einer dreifachen, dass er die iudicia universalia und particularia den singularia koordiniert. Das ist, wenn ich die Verhältnisse richtig beurteile, von rein formallogischem Standpunkte aus, ein Rückschritt. Kant begründet nun seine Aufstellung: „Vergleichen wir dagegen," sagt er, „ein einzelnes Urteil mit einem gemeingültigen, bloss als Erkenntnis, der Grösse nach, so verhält sie sich zu diesem, wie Einheit zur Unendlichkeit, und ist also an sich selbst davon wesentlich verschieden." Hat also Lambert die Urteile rein nach dem formallogischen Begriff des Urteilsumfanges eingeteilt, so knüpft Kant ganz ausdrücklich seine Einteilung an einen Begriff, der nicht im Urteil als solchem enthalten ist, an den der Grösse überhaupt, nicht des blossen Umfangs. Die Einheit als Gegensatz zu den rein mathematischen Begriffen der Unendlichkeit und der Allheit ist für ihn das entscheidende Moment zur Aufstellung dieser seiner Urteilsarten gewesen.

II. Die Qualität der Urteile.

Auch bei der Qualität der Urteile fasst G. Fr. Meier die gewöhnliche Ansicht seiner Zeit zusammen in § 294: „In einem logischen Urteil, schreibt er, stellen wir uns entweder vor, dass

das Prädikat dem Subjekte zukomme oder nicht zukomme. Jenes ist ein bejahendes Urteil (iudicium affirmans, affirmativum), dieses ein verneinendes Urteil (iudicium negans, negativum). Und wenn in einem Urteile entweder in dem Subjekte oder Prädikate oder in beiden zugleich eine Verneinung ist, so ist es ein bejahendes Urteil, welches ein unendliches genannt wird (iudicium infinitum). Die Beschaffenheit der Urteile (qualitas iudicii) besteht in der Bejahung oder Verneinung." Die entsprechenden Stellen sind bei Wolff die §§ 204, 208 und 209; bei Baumgarten die §§ 213, 214 und 216, wo genau dieselbe Ansicht vorgetragen wird. Lambert erwähnt in § 121 nur „bejahende und verneinende Urteile oder Sätze". Im Grunde genommen haben also alle diese Logiken nur zwei Urteilsqualitäten, Bejahung und Verneinung; denn das unendliche Urteil ist auch bei Meier nur eine besondere Art des bejahenden. Aus dieser untergeordneten Art macht Kant, ebenso wie aus dem einzelnen Urteil, eine beigeordnete Gattung. Er bestreitet zwar den Logikern nicht das Recht, von ihrem Standpunkte aus die unendlichen Urteile zu den bejahenden zu rechnen, fährt aber fort,1) dass z. B. der Satz: „Die Seele ist nicht sterblich, zwar der logischen Form nach wirklich bejahet,“ dass aber durch denselben trotzdem „die unendliche Sphäre alles Möglichen (in Bezug auf die Seele) insoweit beschränkt wird, dass das Sterbliche davon abgetrennt, und in den übrigen Raum ihres Umfanges die Seele gesetzt wird." „Diese unendlichen Urteile," fährt er fort, „in Ansehung des logischen Umfanges, sind wirklich bloss beschränkend in Ansehung des Inhalts der Erkenntnis überhaupt, und insofern müssen sie in der transscendentalen Tafel aller Momente des Denkens in den Urteilen nicht übergangen werden." Das unendliche Urteil müsste also, seinem Sinne entsprechend, am besten das beschränkende heissen, so dass wir ein vollständig neues Urteil haben, das von dem Meierschen iudicium infinitum, trotz des Namens, weit verschieden ist. Auch steht dies Kantische Urteil in keiner Beziehung zu dem gelegentlich in der früheren Logik auftauchenden axioma oder iudicium restrictivum, welches vor Kant wohl nirgends eine andere Bedeutung hat als in dem Systema Harmonicum Logicae des J. Heinricus Alstedius (1614), wo es S. 335 folgendermassen bestimmt wird: „Axioma restrictivum est quod habet additam parti

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1) Kr. d. r. V. S. 91.

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