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flusse eines Cartesius, Leibniz, Wolf absehen wollte. Mochte die Kritik der reinen Vernunft in der transscendentalen Logik, in der Methodenlehre und im zweiten Hauptstück derselben vom Meinen, Wissen und Glauben eine ganz andere von den bisherigen Lehren verschiedene Antwort geben, so waren doch auch in Süddeutschland die Geister für die kritische Philosophie vorbereitet, ja durch die Bewegung im eigenen Lager ihr entgegengeführt.

Aus dieser Thatsache lässt sich auch verstehen, warum in Süddeutschland die Schriften Kants mit nicht geringerer, ja vielleicht sogar mit grösserer Begeisterung aufgenommen wurden als im Norden. Sie kamen einem Bedürfnis der Geister entgegen, ,, mancher zwar ahndete, und alle hofften es, doch keiner wusste, ob endlich der Tag erwachte." 1) Ein Blick auf diejenigen Punkte, welche den süddeutschen Denkern an der kritischen Philosophie besonders gefielen, kann das eben Gesagte nur bestätigen. Maternus Reuss 2) führt i. J. 1789 als erstes auszeichnendes Merkmal des Kantischen Forschens an das Aufgeben aller Autorität in der Philosophie. Schon vor 43 Jahren 3) hat Kant gewagt, das Ansehen der grössten Männer, wenn es ihm bei der Erforschung der Wahrheit im Wege stand, wegzuräumen; waren es gleichwohl Leibniz, Wolf, Bernoulli und Bülfinger . . Und von diesem Wege liess er sich nicht irre machen, nicht durch die Furcht, den grössten Männern zu missfallen, nicht aus Furcht vor dem grossen Haufen, über dem das Vorurteil und Ansehen grosser Männer annoch eine grausame Herrschaft führe." Es ist überaus vielsagend, dass der süddeutsche Ordensmann gerade diesen Umstand als erstes Merkmal des Kantischen Denkens betont. Als ein weiteres Verdienst wird gerühmt, dass Kant gegenüber den Vielwissern, die ihre metaphysischen Gläser so fleissig und vertieft nach jenen ausser den Grenzen des menschlichen Verstandes liegendeu Gegenden richten," nunmehr die wahren Grenzen unserer Erkenntnis festgestellt hat. Diese neue Theorie schränkt unser Erkennen bloss auf Gegenstände ein, die der Sinnlichkeit gegeben werden können, und folglich alle

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1) cf. unten Ode 1.

2) Soll man auf katholischen Schulen Kants Philosophie erklären? Würzburg 1789. § I.

3) In der Schrift: Von der wahren Wertschätzung der lebendigen Kräfte u. s. w.

Erkenntnis von Dingen an sich selbst und ausser der sinnlichen Vorstellung für unmöglich erklärt.“ Dies leistete die Kritik der reinen Vernunft, in welcher Kant eine neue, bisher ganz ungekannte Quelle der menschlichen Erkenntnis entdecket, nämlich die reine Sinnlichkeit, auf welche sich der Verstand in seinen wesentlichen Wirkungen bezieht. . . Anschauung liefert den Inhalt Verstand die Form des Begriffes, so dass es ohne Zusammenwirkung der reinen Sinnlichkeit, der Empfindung und des Verstandes keine Erkenntnis eines wirklichen Gegenstandes geben kann." 1) ,,Da ferner die alleinigen Materialien, woran die Vernunft ihr formales Vermögen üben kann, Urteile und Begriffe, also Produkte des Verstandes sind," so ist es klar, dass Vernunftund Verstandeshandlungen nur in Beziehung auf sinnliche Dinge Realität haben.2) So schien Kant wirklich eine alte Streitfrage unwiderleglich gelöst zu haben. Wie sollten aber nunmehr die alten Wahrheiten von Gott, Seele u. s. w. gerechtfertigt werden? Hier bot der Vernunftglaube mit seinen Postulaten der Unsterblichkeit, Freiheit und des Daseins Gottes den „Vernunftforderungen“ genügenden Ersatz. Glauben ist ein „Fürwahrhalten aus subjektiv zureichenden, aber objektiv unzureichenden Gründen. Er ist ein notwendiger Glaube, wenn die Vernunft zu einem notwendigen Zwecke schlechterdings eines Satzes bedarf, den kein Mensch wissen kann, und den sie doch für wahr zu halten gezwungen ist. Einen solchen treffen wir in unserer Vernunft an . . . ich erkenne Moralität als etwas notwendiges in meiner Natur, ohne welche ihre ganze Würde und mein ganzer Wert dahin sinken würde." 3) Die zur Erreichung dieses notwendigen Zweckes nötigen Mittel fand man in den Postulaten der Vernunft ausgedrückt. Dieser moralische Erkenntnisgrund verhiess den damaligen Theologen und Philosophen Süddeutschlands eine neue Epoche für Religion und Moral. Er erschien ihnen als „die unerschütterliche Grundfeste der Religion." 4) Aberglauben und Schwärmerei sollten mit einem Male gebannt sein: „Hier ist keine gaukelnde Phantasie, keine schwärmende Einbildung, kein Vorurteil meiner Väter, keine religiöse Meinung, nichts von alledem, was mich zum Glauben bestimmt, sondern ganz allein . . . meine

1) Reuss a. a. O. S. 13.

2) a. a. O. S. 20.

3) Reuss a. a. O. S. 23.
4) Reuss a. a. O. S. 28,

mir anhängende Natur." Die Reinheit des Kantischen Moralgesetzes galt gewissermassen als Wächter und Bürge für diese reinere Religion.

Der Eindruck, welchen die kritische Philosophie im katholischen Süden Deutschlands hervorrief, muss, soweit sich jetzt noch erkennen lässt, ein ausserordentlich grosser gewesen. Um nur auf weniger Bekanntes hinzuweisen, sei angeführt: „Der kurbayrische wirkliche geistliche Rat von Dufresne schrieb im Jahre 1788 an seinen Freund, den Mediziner Schubaur in München: „Dem Schwankenden, Unbestimmten der einmal angenommenen metaphysischen Systeme kann durch nichts abgeholfen werden als durch Kritik. Sie hat die geschmünkte Unwahrheit verhindert, sich an die Stelle der Wahrheit fest zu setzen." Zugleich ist er überzeugt, dass Kants Theorie über Raum und Zeit, seine Lehren über Sinnlichkeit und Verstandesbegrenzung fest stehen, dass sie niemand widerlegt hat, auch niemand widerlegen wird, weil das Ganze auf Säulen apodiktischer Gewissheit ruhet, deren Fundamende ebenso unumstösslich sind als die Fundamente der Mathematik." Er hält „Leibnizens Theodicee, Lessings Nathan, Lamberts Organon und Kants Kritik der reinen Vernunft für die grössten Geistesprodukte, die in diesem (d. i. i. 18.) Jahrhunderte in Europa hervorgebracht worden" und behauptet, man lerne aus Kants Büchertiteln mehr als aus ganzen Werken anderer Männer. 1) Ferneres spricht die oberdeutsche Litteraturzeitung vom November 1788 von den Thesen einer Disputation aus der Benediktinerabtei Sct. Ulrich in Augsburg und bemerkt dazu, dass in denselben „die neuesten Schriften der heutigen Philosophen, sogar der scharfsinnige, so vielfältig abschreckende Kant, glücklich seyn benutzt worden", und setzt hinzu: „Wenn diese Philosophie in den Klöstern einmal die herrschende wird, dann sind sie die wohlthätigsten Institute der Menschheit."2) Man sah nunmehr in Kants Schriften die Quelle aller richtigen Erkenntnis nicht bloss für die eigent

1) Epistel an Herrn Schubaur, der Medizin Doktor in München, über den Wert der Kantischen Philosophie. Der Brief ist bezeichnet: Durlach, den 28. April 1788. cf. S. 5. 6. S. 16 f. gesteht Dufresne im „Vorbeigehen“, dass ihm Hr. Lessing bei seiner Durchreise in München im Dezember 1776 die Schrift: „Versuch, den Begriff der negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen (1763)“ sehr nachdrücklich und eindringlich empfahl und seine hohe Meinung für Herrn Kant mit vieler Wärme äusserte.“

2) cf. Reuss a. a. O. S. 53-54.

lichen philosophischen Disziplinen wie Logik, Erkenntnislehre, Ethik, sondern auch für manche weit entfernter liegende Gebiete. So wurde an der Leichenrede, die Ildephons Schwarz bei der Beerdigung des Abtes von Banz hielt, rühmend hervorgehoben, dass in ihr „kein Prunk sich finde, sondern vielmehr die Eigenschaften, welche Cicero in manchen Stellen seiner Bücher de oratore und Kant in seiner Kritik der Urteilskraft fordere." 1) Dieser eben erwähnte Benediktiner Schwarz, keineswegs ein unkritischer Anhänger Kants, bediente sich in seinem Handbuche der christlichen Religion der Kantischen Philosophie zur Erläuterung der Sätze. 2) Sartori Tiberius, Professor der Theologie in Salzburg, verkündet den Priestern, selbst den Landgeistlichen, dass auch von ihnen gemäss den Bedürfnissen der gegenwärtigen Zeit Logik, philosophische Moral, Rechts- und Klugheitslehre und auch die neuesten philosophischen Schriften nach dem Geiste der kritischen Philosophie studiert werden müssen mit steter Rücksicht: Wie wird dadurch Moralität befördert?") Fingerlos Math., Regens in Salzburg, seit 1801 Stadtpfarrer in Mühldorf a. Inn, später Direktor des Klerikalseminars in Landshut, antwortet auf die Frage: Wozu sind Geistliche da?" Nicht zur Verrichtung der Zeremonien, nicht zum Messelesen, nicht zum Lippengebet, sondern zur Beförderung guter Sitten durch Belehrung. Dabei spricht er besonders von der Achtung für das Gesetz als einem Motiv der Handlungen und von der Gesetzgebung der Vernunft und empfiehlt warm die Kantische Philosophie.) Zirkel, Vorstand des theolo

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1) Frank, Othmar: Andenken an Ildephons Schwarz († 1794), Würzburg 1795, S. 256.

Schwarz, Ild.: Handbuch der christl. Religion. Bamberg 1793, 3. Aufl. 1803. 3 Bde. Ein Zeitgenosse urteilte darüber: „Es beweist diese Arbeit auch den wohlthätigen Einfluss der Philosophie auf die Religion. Es ist durch dieses Werk der Geist des freieren Denkens in unserer Kirche geweckt."

3) Sartori Tiberius († 13. XII. 1798): Der Theologe nach dem Geiste der neuesten Litteratur und den Bedürfnissen der gegenwärtigen Zeit. Salzburg 1796. Über S. cf. Meusel, Lexikon der vom Jahre 1750-1800 verstorbenen deutschen Schriftsteller, Leipzig 1811, Bd. XII. S. 42 Ein hartes Urteil über S. in der Schrift: Über öffentliche Lehranstalten u. s. w. S. 43 ff.

4) Wozu sind Geistliche da? Salzburg 1800, 2 Bde. cf. bes. 1. Bd. 1. Abschn. §§ 3-7 und 2. Abschn. Über die Kantische Philosophie: 2. Bd. § 42 ff. bes. S. 49 ff. Über Fingerlos cf. Felder, Gelehrten und Schriftsteller Lexikon. Landshut 1817. I. Bd. S. 233.

gischen Seminars in Würzburg und später Weihbischof, wählt die Kantische Ethik als Grundlage für die Vorträge an die jungen Kleriker und als Thema für die Predigten in der Karwoche im Jahre 1793.1) Hofer Joh. Ev., Prokanzler und Professor in Salzburg, entwickelt in einem eigenen Programm2) Kants Ansicht betreffs der moralischen Schriftauslegung, findet sie nicht für bedenklich und erklärt am Schlusse, dass ein mit den nötigen Kenntnissen des Hermeneuten vertrauter Theologe der Kantischen Schule keineswegs der Eichhornschen 3) Richtung werde folgen müssen. Auch für die pädagogische Litteratur hat die kritische Philosophie ,,notwendige Zusätze und Verbesserungen" gebracht. Auf die Lehrbücher, in denen noch der Eudämonism herrscht", wird geringschätzend herabgesehen. Jetzt gilt als neue Idee: Der Zögling soll nicht nach dem verwerflichen Glückseligkeitssystem gebildet, sondern zur Achtung vor dem Gesetze, zur reinen Sittlichkeit, angeleitet werden. ) Ja, Johann Kaspar Stephan (geb. 1774), 1792 Reuss' Schüler in Würzburg, veröffentlicht sogar eine Studie „über Kants Idee, das Schreibenlehren betreffend“.5)

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Diese skizzenhaften Linien lassen bereits erkennen, wie weit und tief auch im Süden Deutschlands die Kantische Philosophie allmählich vordrang. Sie eroberte sich zum Teile Lehrstühle an den Universitäten jedenfalls wagte es kein philosophischer und theologischer Lehrer mehr, achtungslos an ihr vorüberzugehen fand Eingang in die Erziehungsstätten des Klerus, in die Schulen und Zellen der Klöster) und war auch auf dem platten Lande nicht

1) „Predigten über die Pflichten der höheren und aufgeklärten Stände." Würzburg, Stahel 1793. Sie wurden z. T. von Prof. Berg, z. T. von Zirkel gehalten (Pr. 3, 5, 7). cf. hierüber auch: Kritik über gewisse Kritiker (Augsburg 1795, Beilage No. 9, 11, 14, 15, 17, bes. No. 19), wo von Zirkel die Rede. Die gen. Zeitschrift war das Organ der Ex-Jesuiten. cf. Schwab, Franz Berg, Würzburg 1869, S. 210; 285 ff. Über Zirkel, Ludwig: Weihbischof Zirkel, Paderborn 1904.

2) De Kantiana s. Scripturae interpretatione, Salisburgi 1800.

3) Eichhorn (1752-1827), Professor in Jena.

4) cf. unten Ode 3 Anm. b.

5) Über diese gesamte, jetzt noch auffindbare Litteratur wird die Studie: Kant in Süddeutschland, in den „Kantstudien“ ausführlich berichten.

6) Allerdings kommt J. Salat in seiner Studie „Über den Beifall, den die Kantische Philosophie bei Schwärmern und Mönchen gefunden haben soll" (cf. Philosophisches Journal, herausgegeben von Fichte und Niethammer, Bd. 9, v. J. 1798) zu dem Ergebnis: „Soviel ist wohl entschieden ausgemacht, dass die Kantische Philosophie bei Schwärmern, aber

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