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einen der wesentlichsten factoren für die gesundung des staats die zweite hälfte des 17n jahrhunderts sieht eine heilung der kriegswunden vorerst in der erweckung des volks. beide male geht diese erkenntnis von den geistigen leitern der nation aus; aber im ersten falle vermag die organisation eines geschlossenen staatswesens etwas einheitliches zu schaffen, während die buntscheckige staatenmasse des 17n jahrhunderts nur ein mosaikartiges gebilde auf dem gebiete des schulwesens zu stande bringt.

Das naturrecht, mit Hugo Grotius von den beziehungen der völker unter einander anhebend, zieht engere und engere kreise und begründet als wichtige angelegenheit eines jeden staates, was der zufall geschichtlicher ereignisse in der praxis hier und da bereits herbeigeführt hatte. die erziehung des volkes fällt unter die aufgaben des staates.

So vereinen sich das ethische motiv der reformation von der bedeutung des individuums mit dem praktischen des politikers zu schönster harmonie.

Unter den ersten, welche in dieser bewegung hervortreten, steht herzog Ernst von Gotha, dessen geschickte räte Glass und Reyher, der rector des Gothaer gymnasiums, sein werk treulich unterstützen. das resultat einer vom herzog eingesetzten schulvisitation ist die von Reyher 1642 verfaszte neue schulordnung, welche eine anweisung erteilt, wie 'die unter dem untersten haufen der schuljugend begriffenen kinder im fürstentum Gotha kurz und nützlich unterrichtet werden können und sollen' (Beck I 507).

Ähnlich regt es sich in einem andern thüringischen herzogtum. in Jena gibt ein zahlreicher kreis fachkundiger männer im streit um das erziehungswesen sein urteil ab. aber in wort und that hervorragend ist Erhard Weigel. er unternimmt reisen, um sich über den zustand des schulwesens zu belehren, bespricht sich mit dem polyhistor Placcius in Hamburg und sucht ihn in sein interesse zu ziehen (K. Fischer: Leibniz u. s. sch. s. 64). er entwirft eine kunstund tugendlehre für trivial- und kinderschulen. er gründet selbst eine kunst- und tugendschule, über deren segensreiches wirken wir ein interesssantes urteil in einem 'kurzen bericht auf eingenommenen augenschein' von einem laien besitzen (E. Spiess 123).

Ein ausgezeichneter staatsmann, der bekannte Veit Ludwig von Seckendorf, dem selbst ein herz für das volk schlägt und in der richtigen erkenntnis vom jammer der schulen ihre besserung wichtigste angelegenheit seines amtes ist, tröstet sich über seine eignen miserfolge mit der segensreichen thätigkeit Weigels und zollt ihm unverholen sein lob.

In diese grosze bewegung greift nun zunächst von ganz andern gesichtspunkten geleitet der pietismus mit seiner vertiefenden frömmigkeit ein. er übernimmt die schwierige aufgabe der inneren mission und sucht den unter nicht verstandenem formelkram erstorbenen glauben zu wecken und zu beleben. erst allmählich er

weitert er sein gebiet und wendet auch der erziehung der jugend seine aufmerksamkeit zu. Franckes begründungen sind ein goldenes glied in der langen kette gleichzeitiger ähnlicher veranstaltungen.

Wir haben der volksschule an ihrer quelle gelauscht, wir haben die höheren schulen vollständig auszer acht gelassen. sie werden von den mächtigen impulsen des zeitalters wenig berührt. die für sie entworfene schulordnung Melanchthons besteht bis in die letzten decennien des 18n jahrhunderts fast unverändert fort. steht unsere moderne realschule dem gymnasium näher als der volksschule, so kehrt sich für jene zeit das verhältnis um.

Es sei hier der ort, diesen unterschied kurz zu illustrieren.

Die realschule unserer zeit stellt sich die aufgabe, 'für die höheren berufsarten des praktischen lebens eine allgemeine wissenschaftliche vorbildung zu geben' (Schmids encykl. VI 707). diejenige gründung, welche zum ersten male den namen der realschule trägt, soll dagegen, wie es das von Christoph Semler in seinen 1709 veröffentlichten plan aufgenommene gutachten der Berliner societät der wissenschaften ausspricht, 'die knaben, so zu handwerkern sich begeben sollen . . . in denen zu solchen ihren vorhaben und künftigen stande dienlichen teils allgemeinen, teils bei vielen handwerkern zu statten kommenden lehren, nachrichtungen und übungen unterweisen und abrichten.'

Wie die ziele beider einrichtungen grundverschieden sind, so dementsprechend die art der unterrichtsgegenstände, die für den unterricht angesetzte zeit und endlich die besucher selbst.

Von den ersteren zähle ich aus den 63 gegenständen, welche in dem seit 1708 abgehaltenen unterrichte zur besprechung gelangten, einige zur veranschaulichung dieser ersten realschule auf. erklärt wurden dort das uhrwerk, das modell eines hauses, des wagens, pfluges, der egge, eines tuchmacherstuhles, die verschiedenen arten von wollen, tuchen, leinwandzeugen, ferner die samen, wurzeln, kräuter, mineralien usw.

Die für den unterricht festgesetzten stunden waren zwei in der woche, und zwar mit den armen kindern mittwochs und sonnabends von 11-12 uhr, mit denen, welche zahlen konnten, von 2—3 uhr nachmittags.

Das alter der sich beteiligenden schwankte zwischen 10 und 14 jahren.

Zu einer so gestalteten realschule war von der volksschule nur ein kleiner schritt. hatte man überhaupt erst dem volke und seiner erziehung aufmerksamkeit geschenkt, so konnten auch die schäden nicht übersehen werden, an denen seine übrigen lebensverhältnisse krankten.

Der traurige zustand in gewerbe und industrie wird gegenstand der discussion. hervorragende rechtslehrer der zeit wie Schröder, Horneck, Seckendorf beschäftigt dies gebiet. das alte zunft- und innungswesen mit seinen überlebten formen wird einer

schonungslosen kritik unterworfen. unter den bittschriften und vorlagen des reichstages von 1672 befindet sich auch eine über abschaffung der zünfte (Roscher in Webers arch. f. sächs. gesch. I 388 ff.). kein wunder, dasz nun mehr als früher die frage nach einer geeigneten vorbildung der künftigen handwerker in den gesichtskreis trat.

Diesem drange äuszerer verhältnisse kommt eine gänzlich veränderte anschauung von den aufgaben der erziehung zu statten. wir hatten schon oben gesehen, wie sogar die reformation durch eine neue behandlung des sprachunterrichts einer anschauung die bahn ebnete, welche im 17n jahrhundert alle kreise des geistigen lebens erobern sollte. das dort in seinem keime ganz unscheinbar auftretende nützlichkeitsprincip findet reiche nahrung an der philosophischen erörterung, welche mit Baco anhebt.

Es ist charakteristisch für den geist dieser epoche, dasz er sich in dem suchen nach erfindungen und entdeckungen rastlos abmüht. die wissenschaft soll das praktische leben bereichern. auch in diesem bestreben steht Erh. Weigel oben an. seine schätzung der mathematik ist ähnlich wie die der Römer zu Ciceros zeit: 'metiendi ratiocinandique utilitate'. 'der bürgerlichen nahrung und ökonomie gibt die mathematik anleitung zu vorteilhafter disposition des haus- und stadtwesens, zu genauer ermessung und einteilung an hab und gut ... dem handel hilft die mathematik, nicht allein mit der rechenkunst und buchhalterei . . . sondern auch mit der wissenschaft von allerhand manufacturen' (Erh. Weig. bei Edm. Spiess s. 107).

Das wort Bacos: usui et commodis hominum consulimus wird die parole des tages. von Christian Thomasius hebt es sein biograph Luden als besonders bemerkenswert hervor, 'dasz er immer auf den nutzen dringe' (s. 25). in wissenschaft und litteratur macht sich das nützlichkeitsprincip breit. das wort 'nutzen' wird die gangbarste münze des tages. was irgend anspruch auf geltung macht, musz sich durch einen eingehenden nachweis seines nutzens legitimieren.

Unter diesem gesichtspunkte wird auch erziehung und unterricht betrachtet. Erhard Weigel will die mathematik nicht 'ieiune, sondern usualiter zum nutzen des gemeinen wesens betrieben wissen' (a. a. o. s. 62). Christoph Semler macht nützliche vorschläge zu einer handwerksschule. in 14 punkten weist er den 'nutz' einer solchen nach. rector Schöttgen an der kreuzschule zu Dresden verkündet 1742 in seinem unvorgreiflichen vorschlag' als seinen grundsatz: 'alles, was in der schule vorgenommen wird, musz zum allgemeinen nutz brauchbar sein' (act. schol. II 222). Joh. Peter Miller in Halle verlangt sogar, dasz man den schülern den nutzen der einzelnen gegenstände darlege.

Bei einer solchen auffassung einer praktischen abzweckung tritt die unzulänglichkeit der schulen ganz besonders zu tage. die gymnasien treiben die für das studium erforderlichen fächer. das mag gehen. aber was wird aus der überwiegenden mehrzahl der nicht

studierenden, dem gewerbe, handel, der industrie sich zuwendenden? man musz sie in gegenständen unterrichten, welche für das leben brauchbar sind. das leisten die höheren latein- und die niederen deutschen schulen nicht. das leben bietet res nicht verba. daher lehre man real- nicht verbalwissenschaften.

Hier ist der neue methodengang eines Ratich und Comenius wohl von dem allgemeinen verlangen nach einführung neuer unterrichtsgegenstände zu unterscheiden.

Von einer neuen schule, welche dem entsprach, hat auch Erh. Weigel noch keine idee, wenn auch sein wirken wesentliche anregungen gibt. auch er sucht mit beihilfe neu erfundener dem kindischen zur weisheit leicht und lieblich anzuführenden gemüt proportionirter mittel und instrumente' den unterricht zu vermehren. aber nirgends verrät er die absicht, eigens zum handwerk vorbildende schulen ins leben zu rufen. erst seine schüler treten diesem gedanken näher. Leibniz spricht einmal beiläufig die meinung aus: es sollte auch öffentliche handwerksschulen geben, damit die knaben nicht so viele jahre unnütz durch blosze prügel und schläge von den meistern zurückgehalten würden zum groszen schaden des staats, welcher eben so viel an nutzen verliert als diese an ihrem leben' (bei Edm. Pfleiderer s. 615). aber von einer verwirklichung des planes auch hier keine spur. erst Christoph Semler, auch ein schüler Weigels, gründet eine handwerksschule.

Dieser merkwürdige mann ist zu Halle 1669 geboren und 1740 daselbst gestorben. natürliche eigenart und der zufall seiner verhältnisse bereiten ihn zu seiner aufgabe vor. dem knaben macht es das gröste vergnügen, sich tagelang mit dem auseinandernehmen und zusammensetzen einer taschenuhr zu beschäftigen; den jüngling zieht es von seinen theologischen studien zu Erhard Weigel hin, und einen groszen teil seiner späteren zeit nimmt die beschäftigung mit mathematischen und mechanischen dingen in anspruch. so tritt er in die reihe jener prediger, an denen das 18e jahrhundert so reich ist, der Hecker, Silberschlag, welche von einem gegensatz des glaubens zur naturerkenntnis nichts wissend, gerade im studium der natur überall die spuren des wandelnden gottes entdecken.

Er ist ein aufrichtiger seelenhirt seiner gemeinde, ein gewandter prediger und sucht sich in der wissenschaft eine stellung zu erobern. das bedürfnis des volkes beschäftigt sein denken und gleichzeitig unterhandelt er mit der britischen societät der wissenschaften über eine erfindung, welche die verschiedenen arten der meszbarkeit der seelänge betrifft. Leibniz' idee einer rechenmaschine gibt ihm die anregung zur construction seines cylinder arithmeticus. er schreibt ein lehrbuch über jüdische altertümer, in katechetischer form für die jugend bestimmt, und findet zeit, dem problem des perpetuum mobile sein leben hindurch nachzuforschen, dem gemeindewesen wendet er seine aufmerksamkeit zu und wirkt für die herstellung von leichenwagen. der aufwand für eine zahlreiche familie hält ihn

nicht ab, ein für die damalige zeit bedeutendes geld in seinen apparaten und modellen anzulegen. er construiert modelle der stiftshütte, des tempels Salomonis, der stadt Jerusalem und des gelobten landes. zwei himmelssphären, das Tychonische und Copernicanische system darstellend, kosten ihn 1000 thaler.

Bei allem idealen sinn wiegt das praktische interesse doch vor. er ist durchaus ein kind seiner zeit. seine erfindungen sollen einen nutzen gewähren. auch seine pädagogischen unternehmungen tragen diesen charakter. non scholae, sed vitae discendum. dieser alte spruch erhält von ihm im eigentlichsten sinne geltung. der zweck der schulen ist, dasz 'die kinder in denselben zum gemeinen leben präpariert werden' (nützl. vorschl. I 3). im leben gelangen die meisten nicht zum studium, sondern 'zu andern professionen und handwerkern' (nützl. vorschl. I 2). aber gerade am handwerkerstande musz aller welt viel gelegen sein, 'weil er wie der grund ist, welcher die beiden übrigen (den statum ecclesiasticum et publicum) stände trägt' (nützl. vorschl. VI 13), als inspector der niedrigsten deutschen schulen bei Halle, deren zu seiner zeit 33 waren (act. hist. eccl. IV 202), lag ihm deren wohlfahrt aus allen kräften besonders zu fördern 'amt und pflicht wegen' nahe (realsch. § 2). die unzulängliche vorbereitung in denselben regt ihn zur gründung einer handwerks- und realschule an, 'denn dasz in den schulen die jugend lernet lesen, schreiben und rechnen, ist gut, aber es ist nicht genug, weil noch etliche andere wissenschaften vorhanden sind, die sie billig lernen sollten, weil sie ihnen zu ihrem künftigen leben in der welt nicht nur nötig, sondern auch ganz unentbehrlich sind' (act. hist. eccl. IV 202).

So weit die intentionen Semlers.

Ich lasse kurz die geschichte des unternehmens folgen. die 'nützlichen vorschläge' hatten allenthalben guten ingresz gefunden (realsch. § 3). Wolff, Strick, Thomasius, Cellarius, Hofmann, welcher seinen ähnlichen standpunkt später in der vorrede zu Heckers werk über kräuterkunde auseinandersetzte, unterstützten die sache. die königliche regierung zu Magdeburg sah darin ein unternehmen, 'daraus vor das gemeine wesen ein groszer und augenscheinlicher nutz zu gewarten' (realsch. § 5) und beauftragte den rat der stadt Halle, sich desselben anzunehmen. das gutachten des gymnasialkörpers, welches nun eingeholt wurde, fiel zweifelhaft aus, und ein antrag an die vor kurzem gegründete königliche societät der wissenschaften zu Berlin bat um endgültige entscheidung. eine bestätigende antwort vom 15 december 1706 traf ein (abgedr. in realsch. § 8), und Semler sah seine wünsche der verwirklichung immer näher kommen, aber woher die mittel nehmen? er bat das almosenamt, bei dessen begründung er gleichfalls thätig gewesen war, um unterstützung seines zweckes. doch sollte noch ein jahr vergehen, ehe er endlich mit 12 armen knaben in seiner wohnung einen anfang machen konnte. 1708 trat die schule ins leben. dies jahr gibt

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