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ein classisches gedicht oder prosastück der jugend so vorführt, dasz alles wesentliche zu einem vollen und tiefen eindruck kommt. nach solcher erhebung, meint man, werde eine classe ein wenig grammatik oder stilistik oder synonymik so behaglich mit verspeisen wie ein angenehm gesättigter gast ein minder zusagendes nachgericht. auf diese weise, denkt man weiter, können gewisse leidige nebenaufgaben, denen der sprachunterricht sich einmal nicht entziehen kann, halb unvermerkt beiläufig mit gelöst werden.

Die naheliegende einwendung, dasz die lectüre immer beschränkter und wirkungsloser werden musz, je mehr sich an sie angliedert, machen sich diejenigen natürlich nicht, die dem triumphwagen der neuesten pädagogischen göttin des spielenden lernens wesentlich nur als mitschreiende trabanten folgen.

Ernste praktische schulmänner stehen selbstverständlich dieser wie mancher andern losung der neuesten unterrichtslehre ganz anders gegenüber. mancherlei anschlüsse, sagt sich jeder besonnene, ergeben sich bei der eindringenden lectüre eines schriftwerkes, es heisze wie es wolle, ganz von selbst. die apologie des Sokrates läszt sich geradezu nicht verstehen ohne einige kenntnis des athenischen gerichtsverfahrens, keine griechische tragödie ohne eine gewisse bekanntschaft mit dem athenischen bühnenwesen. Caesars commentare kann niemand recht auffassen, der vom römischen heerwesen nicht das und jenes weisz, manche oden des Horaz erhalten licht und reiz erst durch bezugnahme auf ihre anlässe und die allgemeinen zeitverhältnisse. dagegen ist es anderseits offenbar willkürlich und gewaltsam (um bei beispielen aus antiken schriftstellern zu bleiben), eine längere auslassung über den antiken kalender, über witterungsverhältnisse im alten Latium, über das verhältnis der herren zu den sklaven, über staatsreligion und geheimculte u. dergl. an eine harmlose stelle des Ovid oder Tibull zu knüpfen oder im anschlusz an das loblied auf Athen im Oedipus auf Colonus eine pflanzengeographische erörterung über die pflege des ölbaums, über crocus und narcissen in Attika anzustellen, es handelt sich also um eine unterscheidung von natürlichen und künstlich gesuchten anknüpfungen. kein ernster pädagog wird diese leicht nehmen, schon aus dem grunde, weil die liebe jugend in solchen dingen sehr feine instincte hat. das richtige gefühl des schülers wird sehr wohl zu unterscheiden wissen zwischen anschlusz und anschlusz, wird den einen als erwünschte ergänzung des gelesenen mit freuden begrüszen, den andern, der mit den haaren herbeigezogen ist, als eine belästigung ertragen, weil es eben sein musz.

Nach diesen meinen standpunkt im allgemeinen andeutenden bemerkungen komme ich nun zu meinem eigentlichen thema, dem deutschen lesebuch. was soll dieses leisten, was kann es leisten, das sind die fragen, welche ich im nachfolgenden mit der beschränkung auf die classen sexta bis secunda zur erwägung stelle. Was soll es leisten? darauf werden manche heutzutage ohne

bedenken antworten: es soll für die unter- und mittelclassen den mittelpunkt des ganzen deutschen unterrichts bilden, der seinerseits bekanntlich nach neuester anschauung der mittel- und sammelpunkt des gesamtunterrichts der höheren schulen zu sein hat. ehe wir auf den hauptsatz eingehen, zunächst noch ein kurzes ehrliches wort bezüglich des noch gewichtigeren nebensatzes.

Schmerzlich vermiszt haben wir es bis jetzt, dasz das vielgehörte schlagwort, das deutsche müsse endlich in den mittelpunkt des höheren schulunterrichts gerückt werden, für bedächtige leute noch nicht klar erläutert worden ist. seitdem in allen fächern deutch unterrichtet wird, alle stoffe somit den schülern in vaterländischem gewande unter unablässiger bezugnahme auf die uns umgebende gegenwart entgegentreten, konnte schon vor der Berliner conferenz davon ernstlich nicht die rede sein, dasz irgend ein fach die gedanken der lernenden so durchdringe und behersche wie das deutsche. gäbe es in der jetztzeit einen gymnasiasten, der so in seinem Homer oder Sophokles vergraben wäre, dasz er seinem Schiller oder Goethe nur ein notgedrungenes interesse zuwendete, so würde jedermann grund haben seine geistige gesundheit anzuzweifeln. antwortet man auf die gestellte frage, dasz die schüler unserer höheren lehranstalten bislang in den reiz und die feinheiten ihrer muttersprache, in deutsche art und sitte noch nicht in genügendem masze eingeführt worden seien, in dieser beziehung somit der bisherige unterrichtsbetrieb nicht genügt habe, so erheben wir grundsätzlich keinerlei widerspruch. deutet man aber die bis zum überdrusse gehörte forderung von der 'centralen' stellung des deutschen in der weise aus, dasz dieser unterricht allen andern fächern vorspanndienste leisten und alles erdenkliche beiläufig mit abhandeln solle, so finden wir darin eine arge verirrung, welche für den deutschen unterricht nur verhängnisvoll werden kann. indem wir dies aussprechen, machen wir uns freilich in den augen vieler einer argen ketzerei schuldig. sammlung des interesses (concentration) ist die losung des tages. unterrichtsmeister gefeierten namens haben uns in musterlectionen gezeigt, wie viele fäden nach der seite der geschichte, geographie, mythologie, naturkunde usw. sich von einem einzigen deutschen lesestücke aus ziehen lassen. gewis ist das möglich. aber die menschliche seele ist kein kautschukbeutel. ziehe ich bei einem lesestücke das interesse hierhin und dorthin, so darf ich mich vielleicht des erfolges rühmen, die verschiedenartigsten gedankenmassen in des schülers seele in bewegung gebracht und an meine gerade vorliegende aufgabe geschickt angeknüpft zu haben. wie steht es aber um die hauptsache, den eindruck, den das lesestück als solches und nur als solches zu machen hat? unser wahlspruch ist: hoc age d. h. immer nur eines und das ganz und ordentlich. ein sammeln der unterricht, der von der hauptsache ablenkt,

1 jeder kenner der geschichte der pädagogik weisz, wie lange vor 1892 das schon gepredigt worden ist und von wem vornehmlich.

indem er ohne inneren grund nebensächliches oder gar fremdartiges herbeizieht, verdient unseres erachtens vielmehr die benennung des zerstreuenden. erwidert man darauf, hier walte ein arger irrtum ob; kein einsichtiger denke daran, die jugendliche seele mit mehr als einem eindruck auf einmal zu behelligen, so entgegne ich darauf: viele verschiedenartige, wenn auch als einzelne scharf aufgefaszte bilder lassen in der seele einen verschwommenen gesamteindruck zurück; zufall ist es meist, was dabei haften bleibt, noch mehr zufall, wenn gerade die hauptsache, das worauf es ankommt, sich tief und fest einprägt. werden zur erläuterung eines gedichtes in gedrängter kürze die unerläszlichen winke gegeben, so werden sie günstigenfalls den genusz des jugendlichen lesers erhöhen, indem sie dunkles erhellen und unscheinbares in das rechte licht setzen. ist aber der klare und lebhafte eindruck erfolgt, so läszt man den schüler meines erachtens am besten abziehen, wie es nach der aufnahme der photograph thut mit dem gewonnenen bilde, damit mutter natur und stille arbeit nun das weitere wirke. jedenfalls lehnen wir für das deutsche wie für jedes andere lehrfach die forderung mit entschiedenheit ab, dasz es beziehungen zu andern unterrichtsgegenständen suchen solle, wo diese nicht durch den zu behandelnden stoff von selbst gegeben sind.

Für unser thema, die lesebuchfrage, bedeutet das eben kurz angedeutete keine abschweifung. beansprucht das deutsche lesebuch, wie es neuerdings allen ernstes geschieht, den deutschen unterricht der unter- und mittelclassen zu beherschen, so ist es selbstverständlich von groszer wesenheit, welche aufgaben man diesem unterrichte zu stellen oder nicht zu stellen geneigt ist.

Der gedanke, den verschiedenartigen unterrichtsstoff, welchen die deutschen stunden bis zu den tertien einschlieszlich zu bewältigen haben, im engsten anschlusz an das eingeführte lesebuch zu behandeln, musz für jeden pädagogen zunächst etwas anziehendes haben. wird orthographisches, grammatisches, stilistisches, lexikalisches usw. in besondern stunden oder teilen von stunden selbständig behandelt, so müssen für diese unterweisungen zusammenhänge und gedankenmittelpunkte erst gesucht werden; dadurch wird der unterricht zerrissen und löst sich auf in ein nebeneinander von innerlich unzusammenhängendem. zudem ist die versuchung zu unnötiger systematik und übermäsziger gründlichkeit um so gröszer, je mehr einzelne stoffgebiete als selbständige behandelt werden. endlich wird zuzugeben sein, dasz orthographische oder grammatische regeln, welche an charakteristische, wohl gar besonders gehaltreiche stellen genau durchgenommener lesestücke angeknüpft werden, gemeinhin dadurch festere anhaltepunkte im gedächtnis erhalten mögen, als wenn sie an den ersten besten willkürlich gewählten beispielen eingeübt werden.

Eine andere frage ist die, ob das, was an sich als wünschenswert und erstrebenswert erscheinen musz, auch ausführbar ist, ohne

dasz sich erhebliche nachteile nach anderer seite herausstellen. indem ich diese im folgenden von meinem persönlichen standpunkt aus zu beantworten suche, bescheide ich mich, dasz eines einzelnen mannes ansichten und bedenken wenig genug besagen wollen. das endgültige urteil über die zweckmäszigkeit aller didaktischen versuche hängt von der probe ab und deren erfolg.

Dasz es möglich ist, an eine bestimmte folge mit bedacht ausgewählter lesestücke nach einem festen plan orthographisches, grammatisches, sprach- und sagengeschichtliches usw., auch leichte denk- und dispositionsübungen anzuknüpfen, ist erwiesen durch den versuch. wir besitzen erläuterungsschriften zu deutschen lesebüchern, welche diesen gedanken durchgeführt haben.' keines, das mir bekannt ist, verfährt so radical, dasz es die ganze lehrarbeit des deutschen unterrichts den lesebuchstunden aufbürden will. gesonderte übungen für rechtschreibung und zeichensetzung in den unterclassen ganz in wegfall bringen zu wollen, ist wohl niemandem beigekommen. sodann sind selbstverständlich auch bei möglichst 'centraler' stellung des lesebuchs von zeit zu zeit grammatische, stilistische usw. besprechungen im zusammenhange erforderlich, um die gelegentlich gewonnenen einzelkenntnisse zu wiederholen, zu sichten und zusammenzufassen. ein gegensatz der ansichten in dem sinne, dasz der eine alles erdenkliche, der andere schlechterdings nichts fremdartiges an das lesestück anknüpfen will, ist somit nicht vorhanden. anderseits handelt es sich aber doch auch nicht blosz um ein mehr oder weniger, sondern in der that um eine grundsätzlich verschiedene auffassung der aufgabe des lesebuchs. sicher ist es ein groszer unterschied, ob zu einem lesestück das und jene zwanglos bemerkt wird oder ob beim fallen gewisser stichworte erörterungen angestellt werden, welche zur ausführung eines für mehrere jahrescurse vorher festgestellten bauplanes das erforderliche material zu liefern bestimmt sind.

Auf die gefahr vielseitigen widerspruchs hin halte ich an der anschauung der alten schule fest, dasz an gymnasien und realgymnasien (für volks-, realschulen und seminare liegt die sache wohl etwas anders) das lesebuch neben den vaterländischen wesentlich sittlich-ästhetischen interessen zu dienen hat, den letzten ausdruck im weitesten sinne gefaszt, so dasz er die harmlose freude auch am einfachsten und schlichtesten mit ein begreift. wird von einem hauptzwecke gesprochen, so weist schon dieser ausdruck auf nebenzwecke hin, die in betracht kommen; gleichzeitig aber deutet er an, dasz diese nur in betracht kommen dürfen, soweit der hauptzweck nicht durch sie beeinträchtigt wird.

2 ich nenne absichtlich keine titel, damit es nicht scheine, als kehre sich meine auslassung gegen bestimmte einzelne arbeiten. mir kommt es lediglich darauf an, gewisse grundsätzliche bedenken gegen derartige versuche auszudrücken; damit ist die anerkennung wohl vereinbar, dasz einzelne der einschlägigen bücher in ihrer art vorzüglich angelegt und ausgeführt sind.

Die lectüre eines jeden gediegenen schriftstücks wird aber meines erachtens erheblich beeinträchtigt durch alles unwesentliche, das an sie angehängt wird. in diesem punkte hat der altclassische unterricht in seiner jahrhundertelangen geschichte durch bitteres lehrgeld, das er zahlen muste, erfahrung zur genüge eingesammelt. die erklärung dunkler stellen schafft für manche schriftwerke unzweifelhaft erst das richtige verständnis; gewisse auskünfte und winke sind unter umständen sehr geeignet, das interesse an einer künstlerischen schöpfung zu steigern, die freude an ihr zu erhöhen. alles weitere aber ist für den hauptzweck, den zu gewinnenden eindruck, vom übel. hat ein vorgeführtes lebensbild eine eindringlich nahegeführte gedankenreihe die seele des lesers wirklich voll gepackt, so kann er unseres erachtens nicht wohl etwas anderes wünschen, als dasz diese stimmung durch anrühren verwandter saiten eine zeit lang erhalten wird, gleichsam fort- und ausklingt oder dasz man ihn mit der sache nun in ruhe läszt. einem knaben, dem die augen eben über einer schlichten dichtung nasz geworden sind, in welcher der edelmut, die aufopferung, die treue bis zum tode verherlicht wird, dürfte es sicher wohl thun, wenn beispiele verwandter art angeknüpft werden oder der lehrer gar aus seiner eignen lebensund herzenserfahrung heraus seine innerliche anteilnahme an dem gelesenen bekundet. dagegen müssen fragen wie die: wo lag die burg? in der nähe welchen flusses? wer ist die hauptperson in dem gedichte? wie gliedert sich dasselbe? warum steht hinter kam ein semikolon? wie teilt man heimat, wie unterscheidet sich karst und hacke? unsäglich ernüchternd auf ihn wirken, so lange er an dergleichen gedanken- und gefühlssprünge noch nicht gewöhnt ist.

Man wende nicht ein, nur ein ganz stumpfsinniger lehrer könne eine besonders ergreifende geschichte in dieser weise mishandeln. hier handelt es sich um den grundsatz, nicht darum, was dem einzelnen gegebenen falles das gefühl sagt oder nicht sagt. nehmen wir ein anderes beispiel. eine schulmäszige behandlung von Schillers 'kampf mit dem drachen' wird nicht darum herum können, einiges über den Johanniterorden zu sagen, da manche stellen des gedichtes, wenn nicht klarer, so doch eindringlicher werden bei einiger kenntnis der ordensverhältnisse. verweilt ein lehrer länger bei diesem für frische knaben ohne zweifel sehr fesselnden thema, so ist die unausbleibliche folge, dasz die gedanken der jugendlichen hörer viel mehr bei der farbenprächtigen ritterwelt verweilen als bei der 'demut, die sich selbst bezwungen'. sicher kein groszes unglück,

3 vgl. hierzu die fragen in H. Schillers handbuch der praktischen pädagogik, erste aufl., s. 277. 312 und 313. Selbstverständlich verringern sich die bedenken gegen derartige angeknüpfte fragen aus allen möglichen wissensgebieten in dem masze, als das lesestück wenig besagend oder gar für unterrichtszwecke besonders hergestellt ist. auch ist ein unterschied, ob es sich um eine lectüre in sexta und quinta oder um eine solche in tertia handelt.

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