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ungerechten beurteilung der deutschen und englischen litteratur verleitet. wie nichtig ist der einwand, dasz die moral der französischen jugend durch die lecture einzelner liebesschilderungen in englischen oder deutschen romanen gefährdet werde, als ob die griechischen oder römischen dichter sich in ihrer derbsinnlichen, lebensfrohen anschauungsweise besondere ceremonielle rücksichten auferlegt hätten. oder die befürchtung, das studium der germanischen schriftwerke könne die französische formenreinheit verderben und ihr die 'clarté' und 'lucidité' rauben!

Schwerer mag schon der einwand wiegen, dasz es zur zeit an geeigneten lehrern der neueren sprachen (besonders des deutschen) in Frankreich noch fehle. aber das wachsende bedürfnis würde auch deren zahl und qualität schnell vermehren und hoffnunggebende zeichen hierfür sind schon jetzt zu erblicken. dasz der überraschend grosze zudrang zu den realschulen kein beweis für deren vortrefflichkeit sei, ist hrn. F. gewis zuzugeben, immerhin beweisen die erfolge einer besondern schulgattung doch die der zeit entsprechende zweckmäszigkeit derselben.

Eine eigentümliche befriedigung musz es dem deutschen leser gewähren, wenn er sieht, wie hr. Fouillée doch wieder die reformbewegung in unserm vaterlande den Franzosen als heilsame warnung vor radicaler überstürzung vor augen hält. er ist zwar wenig damit einverstanden, dasz den zöglingen der deutschen realgymnasien der zugang zu der philosophischen abteilung der hochschule eröffnet ist, dasz die gymnasien zugeständnisse an die forderungen des praktischen lebens gemacht und den lateinunterricht beschränkt haben. aber mit nachdruck betont er die vermehrte pflege des latein an den realgymnasien und die geringen berechtigungen der lateinlosen realschulen. dasz das griechische hrn. F. als echten Romanen weniger am herzen liegt als das latein, werden wir noch später sehen; ihm erscheint daher unser realgymnasium, trotzdem hier der lauterste quell des antiken culturlebens ebenso tief verschüttet ist, wie in den geistlichen schulen des mittelalters, um vieles besser als unsere lateinlosen schulen oder das französische enseignement spécial, denen wenigstens der vorwurf der halbheit und zwitterbildung nicht gemacht werden darf.

Die vorschläge, welche hr. Fouillée am schlusz seiner langen. abhandlung macht, kommen den in Deutschland bestehenden unterrichtsverhältnissen sehr nahe. er fordert drei verschiedene, aber in ihrer bedeutung und berechtigung ungleiche formen des höheren unterrichts: 1) das enseignement classique, 2) das enseignement spécial, 3) das enseignement professionnel, also gymnasien, realschulen, gewerbeschulen. die ausführung dieser forderung denkt er sich folgendermaszen. der höhere schulunterricht, enseignement secondaire zum unterschied von dem enseignement primaire, dem volksschulunterricht, genannt, hat als einheitliche grundlagen: 1) die französische litteratur und sprache, 2) latein, 3) geschichte,

N. jahrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1893 hft. 1.

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4) philosophie, d. h. nach der beschränkten, vorwiegend auf die morallehre gerichteten methode der französischen gymnasien, 5) die elemente der mathematik und physik. specialfächer sind griechisch, lebende sprachen und die fertigkeiten der praktischen lebensberufe.

*

Das abiturientenexamen, dessen notwendige grundbedingung die kenntnis der lateinischen und französischen litteratur ist, zerfällt in vier unterabteilungen: 1) prüfung in litteratur und philosophie, 2) in litteratur und mathematik, 3) in litteratur und naturwissenschaft, 4) in litteratur, nationalökonomie, handels wissenschaft.

Latein, französisch, geschichte, philosophie sind in allen classen obligatorisch, griechisch nur bis zu den beiden letzten schuljahren, doch wird ihm in der secunda die fünfte lehrstunde abgenommen und diese der mathematik zugelegt. dafür tritt die fünfzahl der griechischen lehrstunden statt der bisherigen vierzahl in der unterprima (classe de rhétorique) für alle diejenigen ein, welche auf das examen in litteratur und philosophie sich vorbereiten. für die zöglinge, welche eine prüfung in mathematik und naturwissenschaften bestehen wollen, ist der griechische unterricht der unterprima durch vier mathematisch-naturwissenschaftliche plusstunden und eine mehrstunde in neueren sprachen zu ersetzen. auch die philosophischen lehrstunden sollen für diese aspiranten zu gunsten ihrer berufsfächer beschränkt werden. für die, welche in nationalökonomie und handelswissenschaft geprüft werden wollen, tritt statt des griechischen unterrichts in unterprima ein vierstündiger vorbereitender fachunterricht und eine mehrstunde in den lebenden sprachen ein. auch die philosophie ist zu gunsten der speciellen fachunterweisung zu beschränken. die bedingungen in den abiturientenexamen selbst können im einzelnen hier übergangen werden, da sie nur auf französische verhältnisse anwendbar sind.

Das enseignement spécial soll nach hrn. Fouillées forderung rein praktisch sein und einen vierjährigen cursus umfassen. es gibt nur berechtigungen für die mittleren posten in der industrie, handel und ackerbauwesen, während das baccalaureatszeugnis in litteratur, nationalökonomie und handels wissenschaft zu den hohen stellungen in denselben berufen befördern kann. obwohl dieses enseignement spécial unsern gewerbe- oder handelsschulen entsprechen würde und nie zu einem baccalaureatszeugnis, sondern nur zu einem 'diplôme d'études scientifiques et industrielles' führen kann, will hr. F. doch noch besondere gewerbe- und technische schulen eingerichtet wissen, teils zur ergänzung des realschulunterrichts, teils zur bessern vorbereitung für diejenigen, welche das examen in nationalökonomie und handelswissenschaft zu machen beabsichtigen.

Bei annahme der Fouilléeschen vorschläge würde zwar das alte

* zu der auch die grammatik, geschichte und geographie zu rechnen sind.

gymnasium in seiner grundlage erhalten bleiben, doch das griechische und die philosophie die kosten der modernen zeitforderungen tragen, die realschule aber zu dem range einer bloszen gewerbeoder handelsschule herabgedrückt werden. das umgestaltete gymnasium, wie er es sich vorstellt, würde aber das griechische nicht, wie es bei uns zweckmäsziger geschehen ist, nach unten hin einschränken, sondern auf der obersten stufe für die überwiegende mehrzahl der abiturienten ganz beseitigen. während das latein in ungeschmälertem umfange bestehen bleibt, soll dem griechischen von oben her die lebenskraft entzogen werden. ja, F. ist nicht abgeneigt, einzelnen radicalen strömungen zu lieb, diese sprache schon von tertia ab für die gymnasiasten, welche nach dem baccalaureate der nationalökonomie und handelswissenschaft streben, durch einen fachcursus und neusprachlichen sonderunterricht zu ersetzen.

Vermittelnde vorschläge haben an sich schon den nachteil, dasz sie den verschiedenen parteirichtungen und interessen nicht zusagen, gegen hrn. Fouillées besondere zukunftspläne würden sich aber die anhänger des realismus im höheren unterrichtswesen nicht minder wie die des idealismus auflehnen. denn mit der absägung des griechischen von dem stamme des gymnasiums- und eine beschränkung dieser neuerdings von quarta an begonnenen sprache auf die drei folgenden classen würde einem solchen verfahren gleichkommen wird eine zwittergattung erschaffen, wie unser deutsches realgymnasium. zudem ist die geschlossene einheit des gymnasialbaus durch die vierfache gliederung des baccalaureats und die damit verbundenen störungen im lehrplane bedenklich erschüttert, wenn F.s phantasien in wirklichkeit umgewandelt werden sollten. die von ihm geplanten real- und gewerbeschulen würden zu wenig berechtigungen und ansehen haben, von der gebildeten gesellschaft in acht gethan werden und an mangelnder lebenskraft zu grunde gehen. die künftigen mathematiker, naturforscher, nationalökonomen und industriellen würden aber nach der ansicht vieler zu sehr mit latein und philosophie beschwert sein. viel praktischer als Fouillées reformpläne scheint uns die umgestaltung unseres höheren schulwesens, besonders wenn im sinne der allerhöchsten willensmeinung das zwitterhafte realgymnasium seinem schicksale anheimfallen wird und neben dem gymnasium nur noch die lateinlose realschule, das eine wie die andere im nationalen, zeitgemäszen sinne verbessert, bestehen bleibt.

DRESDEN.

RICHARD MAHRENHOLTZ.

3.

BILDER AUS DEM RUSSISCHEN GYMNASIALLEBEN VOR VIERZIG JAHREN.

aus dem russischen übersetzt.

Am 24 november 1889 starb in Kasan der gewesene curator des Kasanschen lehrbezirks Peter Dmitrijewitsch Schestakow (geb. 27 juni 1826). vor seiner mehr als zwanzigjährigen wirksamkeit als curator hatte er alle die zahlreichen vorstufen zu dieser hohen stellung durchlaufen. er war gymnasiallehrer (1846-52), inspector (1852-55), director (1855-60), studenteninspector (1860-61), inspector der kronschulen (1861-63) und gehilfe des curators (1863-65) gewesen, hat sich während seines langen, beinahe vierzigjährigen wirkens auch als pädagogischer und historischer schriftsteller, als übersetzer (z. b. des Euripides Medea, Hippolyt, Trojanerinnen) und durch beteiligung an gemeinnützigen unternehmungen rühmlichst hervorgethan und ist in Ruszland als verfasser hochinteressanter darstellungen Moskauischer und Kasanscher universitätsverhältnisse den lesern der Russkaja starina' wohl

bekannt.

In seinem schriftlichen nachlasz haben sich auszer einer autobiographie und einem tagebuch, das auf 600 seiten den zeitraum von zwanzig jahren persönlicher erlebnisse umfaszt, noch einige vollständig druckfertige schriften gefunden, von denen die 'erinnerungen an W. I. Nasimow' im märzhefte 1891 der russischen monatsschrift 'der historische bote' erschienen sind. dieselben behandeln eine so interessante periode russischer gymnasialverhältnisse gegen ende des Nikolaitischen regiments und berühren durch den reiz persönlicher unmittelbarkeit der darstellung so angenehm, dasz es auch deutschen lesern nicht unwillkommen sein dürfte, an der hand eines so zuverlässigen und bewährten führers einen einblick zu thun in die vielfach so fremdartigen verhältnisse des russischen gymnasialwesens vor vierzig jahren.

Um dem leser einen begriff von der bedeutung eines curators des Moskauischen lehrbezirkes zu geben, erwähne ich nur, dasz dieser lehrbezirk die gouvernements Jaroslaw, Kostroma, Twer, NischniNowgorod, Moskau, Wladimir, Smolensk, Kaluga, Rjasan, Tula und Orel umfaszt mit augenblicklich 26 gymnasien, 13 progymnasien, 19 realschulen, einem lehrerinstitut und 9.lehrerseminarien, ohne einerseits die land- und stadtschulen, anderseits die specialschulen und die universität, welche alle ebenfalls dem curator unterstellt sind, in anschlag zu bringen.

Das urteil Schestakows über die persönlichkeit Nasimows, in welchem gewissermaszen das regime zur zeit des zaren Nikolaus repräsentiert wird, mag manchem deutschen leser, den dieses neben

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und nacheinander von verweisen und küssen abstöszt, nicht richtig und treffend erscheinen. aus dem munde eines doch gewis urteilsfähigen mannes, dem seine tüchtigkeit und die gunst des geschickes später eine ähnliche lebensstellung zuwies, hat jedoch die wertschätzung eines vielfachem tadel ausgesetzt gewesenen vorgesetzten jedenfalls anspruch auf ernste berücksichtigung. auszerdem handelt es sich in der so lebendig geschriebenen skizze weniger um die persönlichkeit Nasimows als um die plastisch hervortretenden leiden und freuden eines russischen gymnasialpädagogen vor vierzig jahren, die sich in ähnlicher weise auch in unsern tagen finden.

Nach der glänzenden amtsperiode des curators grafen S. G. Strogonow und der kurzen und spurlos vorübergehenden wirksamkeit D. P. Golochwastows wurde als curator des Moskauischen lehrbezirkes der generaladjutant W. I. Nasimow eingesetzt, der nach den einen curator, nach den andern erzieher' (im russischen 'djadjka' eigentlich kinderwärter) des thronfolgers Alexander Nikolajewitsch ge

wesen war.

Es giengen über den neuen curator beängstigende gerüchte um. man erzählte von ihm, er sei ein 'soldapbon', ein 'burbon', ein mensch ohne jegliche bildung, er werde an der universität und an den gymnasien militärische disciplin einführen, die studenten und gymnasiasten auf marschübungen drillen und bald werden auch die lehrer, inspectoren, directoren und professoren anfangen müssen zu marschieren. über seine mangelhaften kenntnisse hatten sich schon legenden gebildet. so erzählte man sich, er habe beim ersten besuche der universität, da er in der aula neun nischen mit Musen geziert, die zehnte nische aber leer gefunden habe, befohlen in die leere nische die zehnte Muse zu stellen; beim examen in der naturgeschichte habe er bei der antwort eines studenten, dasz ein elephant 100 pud (à 40 russische 32 preuszische pfund) heu an einem tage fresse, bemerkt: 'nun, das ist doch wohl etwas zu viel'; der professor habe gesagt: 'Ew. excellenz, das ist eine hyperbel', und der curator sich nun vorwurfsvoll mit den worten zum studenten gewandt: 'sehen Sie, das ist die hyperbel, die 100 pud heu friszt, aber nicht, wie Sie sagten, der elephant.' Noch viele andere anekdoten erzählte man sich von W.1. Nasimow; sie beweisen alle nur das eine, dasz er den gelehrten nicht nach sinn war, darum haben sie sich auch auf seine kosten lustig gemacht.

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Wir erwarteten, um die wahrheit zu gestehen, mit zittern die ankunft des grimmigen curators, welcher, wie man sich erzählte, mit seinen untergebenen verzweifelt wenig umstände mache, sondern sie wie soldaten anschreie und heruntermache. und, aufrichtig gesagt, hatten wir noch mehr grund ängstlich zu sein, als die andern; unser gymnasium (das vierte Moskauische) war reorganisiert

1 wohl eher gouverneur'; erzieher des nachmaligen kaisers Alexander II war der berühmte dichter Shukowsky.

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