Page images
PDF
EPUB

2.

DIE UNTERRICHTSFRAGE IN FRANKREICH.

Bis zu dem ausgange des deutsch-französischen krieges (1870/71) war es in Frankreich sitte, auf Deutschland wie auf ein land der träumerischen romantik zu blicken, aus dem nichts praktisch verwendbares hervorgehen könne. man bewunderte zwar nach dem vorgange Mme. de Staëls die deutsche wissenschaft und dichtkunst, übersetzte, bearbeitete und erklärte sie, stimmte auch gelegentlich das loblied der höheren schulen und universitäten Deutschlands an, aber man hütete sich, an den überlieferten grundlagen der bildung und erziehung des französischen volkes zu rütteln. gelegentliche versuche, die alleinherschaft der alten sprachen auf den gymnasien zu brechen, wie sie Fourtout, Napoleons III minister, machte, kamen nur der mathematik und physik zu gute, während die geschichte, geographie und die ausländischen sprachen nach wie vor sehr dürftig betrieben wurden. das enseignement spécial, d. h. die realschule, stand bis zum jabre 1886 in ziemlich geringem ansehen und erfreute sich nur spärlicher berechtigungen, trotzdem es von Duruy, dem verdienstvollen minister Napoleons III, in zeitgemäszem sinne umgestaltet war.

Die bewegung auf dem unterrichtsgebiete, welche nach 1870 in unserm vaterlande sich stärker und unabweisbarer geltend machte, die erfolge, welche die petitionen und öffentlichen versammlungen der realschulmänner errangen, haben auch auf Frankreich hinübergewirkt und eine aufregung hervorgerufen, die, wie dort alles neue, einen sehr radicalen charakter annahm, bei uns hat man zwar den abiturienten der realgymnasien den zugang zur philosophischen facultät und damit zu der mehrzahl der akademischen studien geöffnet, aber zugleich verstärkte man die lateinischen unterrichtsstunden dieser schulen und näherte den gesamten organismus derselben dem der gymnasien. den lateinlosen realschulen entzog man, um des fehlenden latein willen, die berechtigung zum eintritt in die technischen akademien und schnitt ihnen somit von oben die lebenskraft ab. die ganze reform, obwohl sie gegen die gymnasien gerichtet war, kam gerade diesen schulen zu gute, welche im besitze ihrer privilegien blieben und zugleich sich in zeitgemäszer weise umgestalteten.

Ganz anders in Frankreich! hier erschien 1885 ein radicales buch 'la question du latin' von Frary Raoul, welches den altsprachlichen unterricht der französischen gymnasien teilweise für alle schäden des republikanischen systems verantwortlich machte und rückhaltslos auf die ersetzung des griechischen und lateinischen durch das deutsche, englische und italienische drang. die gründe, welche Raoul für seine revolutionären vorschläge anführt, treffen

weit mehr die herschende methode des altsprachlichen unterrichts, als diesen selbst. was können diese sprachen dafür, dasz sie zu früh dem unreifen geiste aufgedrungen, mechanisch eindressiert, zum mittel der befriedigung eines äuszerlichen ehrgeizes, welcher in preisverteilungen und öffentlichen belobungen sein höchstes ziel sieht, gemacht werden? eine zeitgemäsze änderung veralteter methoden, bessere vorbildung der lehrenden und vor allem die verlegung des altsprachlichen anfangsunterrichts in ein reiferes alter, sowie die beschränkung der stundenzahl des latein wären die naheliegenden heilmittel gegen diese geisteserstickende alleinherschaft der antiken sprachen gewesen. was bei uns aus weiser rücksichtnahme auf die zeitforderungen längst geschehen war, als Raouls buch in Frankreich aufsehen erregte und auch ins deutsche übertragen ward (1886), das hätte jenseits der Vogesen um so mehr gethan werden müssen, als dort der griechische unterricht schon früher beginnt und den alten sprachen weder in den realen wissenschaften, noch in den lebenden sprachen ein so ansehnliches gegengewicht zur seite gestellt wird, wie auf den reformierten gymnasien Deutschlands. insbesondere hält Raoul, wie viele unserer extremen reformer, den griechischen unterricht für entbehrlich und beruft sich auf die im 17n und 18n jahrhundert geübte praxis. aber sollen denn die zeiten, wo hochbedeutende männer, wie der secretär der französischen akademie Val. Conrart, oder die dichter Quinault und Regnard, des griechischen nicht mächtig waren, wo der vielgefeiertste schriftsteller der aufklärungsperiode, Voltaire, noch mit der griechischen declination auf gespanntem fusze stand, Jean-Jacques Rousseau dieselbe erst im mannesalter lernte und der gelehrte d'Alembert sich viel darauf zu gute that, dasz er die schwierigkeiten der medialen und passiven verbalformen überwunden habe, als das goldene zeitalter des unterrichtswesens erscheinen? die unkenntnis der hellenischen litteratur in ihren originalen und die traurige notwendigkeit, zu französischen übersetzungen zuflucht zu nehmen, hat die gefärbte und verkehrte auffassung des classischen altertums verschuldet, an der das 18e jahrhundert, besonders in Frankreich, leidet. Raoul will die neueren sprachen nur um ihres praktischen nutzens willen gelehrt wissen, so dasz sie also nicht mehr bildenden einflusz haben können, als die mechanisch und zweckwidrig eindressierten alten sprachen. überdies läszt er die groszen schwierigkeiten auszer acht, welche die germanischen sprachen gerade für die Franzosen haben müssen, und die leichtigkeit, welche die erlernung des latein bei der engen verwandtschaft mit der muttersprache für seine landsleute hat. da er nur praktische bürger und beamte, nicht tiefe forscher und gelehrte heranbilden will, so gilt ihm der innige zusammenhang zwischen der römischen und französischen litteratur und der tonangebende einflusz des antiken auf die moderne geistesentwicklung beinahe nichts. auch für den juristen soll das latein überflüssig sein, wobei Raoul in dem schaden, welchen die römischen rechtsformeln und

spitzfindigkeiten in ihrer anwendung auf andersgeartete zeitverhältnisse gestiftet haben, eine bequeme handhabe findet.

Sehr verständig ist allerdings sein vorschlag, den sprachlichen unterricht mit einer lebenden sprache zu beginnen und die zu frühzeitig eintretende unterweisung in den naturwissenschaftlichen disciplinen bis zur vollendung des vierzehnten jahres hinauszuschieben. was Frary mit so eifriger, wortgewandter beredsamkeit erstrebte, das ist in einer weise verwirklicht worden, die dem alten gymnasium in der that die lebenskraft nahm. im jahre 1886 wurde das abgangszeugnis des enseignement spécial (realschule ohne latein) dem der französischen gymnasien fast gleichgestellt, wobei der unterrichtsminister Goblet noch weit über die anträge des conseil supérieur hinausgieng. die zöglinge dieser schule, die man ihren leistungen nach nicht immer denen preuszischer oberrealschulen gleichstellen wird, erhielten die berechtigungen, auf der polytechnischen hochschule und auf der kriegsakademie zu studieren und selbst die verwaltungslaufbahn in ihren höchsten stellen, die diplomatische carrière und die befugnis, sich auf grund naturwissenschaftlichmathematischer studien staatliche diplome zu erwerben, ward ihnen eingeräumt. da die philologisch-historischen wissenschaften sich den nichtkennern der alten sprachen von selbst verschlossen, so blieb nur der zutritt zur école de médicine und der école de droit ihnen versagt. in der baccalaureatsprüfung wurden die wissenschaften, welche keinen unmittelbaren praktischen nutzen gewähren konnten, zu gunsten der nützlichkeitsfächer stark beeinträchtigt. so wurden litteratur, philosophie und moralwissenschaft nur als eine stimme' gezählt, dagegen mathematik und rechnen als 'zwei stimmen', die naturwissenschaften ebenso, jede der lebenden sprachen besonders angerechnet. von den 'acht stimmen' (nur zwei lebende fremdsprachen sind obligatorisch) hatten so die neueren sprachen, französisch, englisch, deutsch oder französisch, deutsch, italienisch, 3 stimmen, die mathematisch-naturwissenschaftlichen fächer 4 stimmen, und die sonst auf der obersten classenstufe höherer schulen stark betriebene philosophie galt ein drittel so viel wie die kenntnis der kaufmännischen buchführung, die comptabilité. um den widerspruch voll zu begreifen, der sich in den vertretern der geschichtlichen überlieferung oder der humanen geistesbildung regte, musz man verschiedene französische eigentümlichkeiten im auge behalten. einmal schlieszt für sehr viele Franzosen, auch für solche, die als beamte, volksvertreter, journalisten usw. eine rolle spielen wollen, der unterricht mit der erwerbung des baccalaureatszeugnisses ab. die eigentlichen hochschulen, wie die Sorbonne, collège de France usw., bieten fast nur öffentliche, für jedermann zugängliche, unentgeltliche vorlesungen, erst in neuerer zeit sind specialcurse eingerichtet worden, deren besuch auf eine erlaubniskarte des docenten hin oder gegen bezahlung gestattet ist. in den öffentlichen vorträgen, auch wenn sie von berühmten männern gehalten werden, gilt die

form gewöhnlich mehr als der inhalt, überdies musz schon die rücksichtnahme auf eine gemischte, zum nicht geringen teile aus damen bestehende zuhörerschaft als der verderb echtester wissenschaftlichkeit angesehen werden. juristen, ärzte, geistliche, gymnasiallehrer erhalten daher ihre vorbildung in fachschulen oder seminaren. bei der concentration des hochschulwesens in Paris und wenigen andern groszstädten pflegen die auf provinziallehranstalten vorbereiteten meist von dem akademischen studium abzusehen, falls nicht der besuch einer fachschule für ihr fortkommen notwendig ist. wozu sollen sie vorlesungen über französische, deutsche oder antike litteratur, über philosophie, geschichte usw. hören, in denen sie nur lernen, was schon in klar und anziehend geschriebenen büchern sich vorfindet oder was der vortragende in kürzerer oder längerer frist selbst drucken läszt? wird nun das abgangszeugnis, wie das um der groszen, leichter erworbenen vorteile willen seit 1886 häufig geschieht, auf der realschule, nicht auf dem gymnasium, erstrebt, so fällt jede kenntnis des griechisch-römischen geisteslebens fort und auch die bekanntschaft mit der modernen cultur bleibt eine rein äuszerliche, da die neueren sprachen nur nach praktischen rücksichten gelehrt werden. selbst die nationale litteratur tritt in den hintergrund, und es kann somit ein auf der realschule gebildeter Franzose hohe stellungen im verwaltungsfache und im unterrichtswesen sich später erringen, ohne von Corneille und Racine, von Voltaire und Rousseau tiefere vorstellungen zu haben. wenn er nur seine muttersprache in schrift und wort beherscht, deutsche und englische bücher oder zeitschriften lesen kann, daneben in den realen fächern eingehendere kenntnisse sich erworben hat, so gilt er für geeignet, über die geschicke seines volkes mit zu entscheiden und auf die öffentliche meinung als beamter oder volksvertreter einzuwirken. nun ist aber die classische grundlage der bildung in einem lande, dessen litteratur und cultur so von dem römischen geistesleben und geschichts überlieferungen durchdrungen sind, dessen sprache zur lateinischen in einem so abhängigen verhältnis steht, noch viel weniger entbehrlich, als bei uns. die kenntnis der eigentlich classischen litteraturperiode des 17n jahrhunderts und des aufklärungszeitalters ist schon um der pflege des nationalbewustseins willen und zum verständnis der geschichtlichen entwicklung Frankreichs so unbedingt erforderlich, dasz eine vernachlässigung der römischen und der classisch-französischen litteratur als eine schwere sünde gegen das eigne volk und vaterland empfunden werden musz, diese nationalen beweggründe haben vor wenigen monaten in der ersten zeitschrift Frankreichs, in der revue des deux mondes, eine scharfe polemik gegen die Gobletsche unterrichtsreform hervorgerufen, die wir im folgenden betrachten wollen. im 101n bande der genannten zeitschrift s. 241-272 hat Alfred Fouillée unter dem titel 'les projets d'enseignement classique Français au point de vue national' einen aufsatz veröffentlicht, der sich manigfach mit H. v. Treitschkes

schrift über das gymnasium berührt und, wie diese, jede anbequemung an die augenblicklich herschenden tagesanschauungen verwirft.

Fouillée meint mit recht, dasz die bevorzugung des enseignement spécial allmählich die gymnasien auf den aussterbeetat bringen werde. die 'elite', welche man in wohlberechneter, scheinbarer huldigung der classischen bildung für würdig erachte, werde immer mehr zusammenschmelzen und ihre geringe zahl nicht im stande sein, den bedarf an staatsmännern, gelehrten usw. zu decken. in einer republik sei es unzulässig, nur einer verschwindend kleinen minorität die segnungen der humanen geistes bildung zukommen zu lassen, denn wo die grosze mehrzahl aller bürger direct oder indirect an der leitung des staates anteil habe, müsse eine thunlichste gleichmäszigkeit der erziehung erstrebt werden. insbesondere tritt er dem vorwurfe entgegen, dasz die gelehrte schulbildung nur sog. 'déclassés' schaffe, und dasz die berechtigten anforderungen der vom gymnasium oder den hochschulen abgehenden nur sehr teilweise befriedigt werden könnten. den unzufriedenen volksverführern und verführten würde die rein auf den materiellen nutzen abzielende realschulbildung mehr nahrung und zuwachs geben als die gymnasialerziehung, welche den charakter festige und selbstthätige geistesarbeit fordere.

Neben diesem vorwiegend politischen gesichtspunkte beurteilt Fouillée das verhältnis von gymnasium und realschule auch nach praktischen gesichtspunkten. vier rücksichten, so erörtert er, würden gewöhnlich für die errichtung und bevorzugung der realanstalten geltend gemacht: 1) die geringere befähigung, 2) das geringere materielle vermögen, 3) die besonderheiten der begabung, 4) die manigfaltigkeit der unterrichtsgegenstände. aber die beiden ersten gründe sprächen gegen eine gleichstellung der gymnasien und realschulen, die schwächere oder stärkere anlage einer besondern geistesfähigkeit solle gerade durch die art des unterrichts auf das normale gleichmasz gebracht werden und der zerstreuenden vielheit der kenntnisse sei eine einförmigere, aber fester organisierte bildung vorzuziehen. die specialfertigkeiten sollten erst nach der wahl eines bestimmten berufes erworben werden, während jetzt der realschulzögling vieles lerne, was für den einen beruf zwar nützlich, für viele andere fächer aber völlig entbehrlich sei. der speciellen ausbildung müsse aber eine allgemeine, für alle gleichmäszige vorausgehen, diese könne nur auf dem gymnasium gewonnen werden. im besondern will hr. F. eltern und kinder vor dem zu frühen entschlusse über die zukunft bewahren und der vorbereitung für eine besondere lebensstellung, an deren ausfüllung nachher plötzlich eintretende verhältnisse hinderlich sein könnten, vorbeugen.

Sein standpunkt ist somit ein echt demokratischer und gipfelt in dem principe der thunlichst gleichen ausbildung aller, die zu einer irgendwie einfluszreichen stellung im staatswesen berufen werden könnten. aber mit dieser demokratischen grundrichtung geht auch eine ausschlieszlich nationale hand in hand, die unsern autor zu einer

« PreviousContinue »