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aber der hauptzweck wird beeinträchtigt, das gedicht tritt zurück und allotria, wenn auch durchaus nicht verwerfliche, füllen die seele.

Sodann ist es ohne weiteres klar, dasz jedes schriftwerk, wenn es nur um seiner selbst willen und überwiegend unter sittlichästhetischen gesichtspunkten behandelt werden soll, so genommen sein möchte, wie es genommen sein will und am besten wirkt. die alltagsweisheit mancher fabel, der frostige scherz in manchem schwank kann durch weiteres herumreden nur noch unschmackhafter werden, wie anderseits manches kleine liedchen von besonderer stimmungsvoller innigkeit und ungewöhnlicher zartheit des ausdrucks auch dem feinsinnigsten ausleger, so zu sagen, ein noli me tangere zuruft. gewisse gröszere Schillersche gedichte fordern von selbst zu einer ernst-pathetischen, daneben auch zu einer beim einzelnen verweilenden besprechung auf, viele Goethesche wirken am besten, wenn sie leichthin gelesen werden. ob ein Uhlandsches gedicht in Tübingen, in Stuttgart oder sonstwo gedichtet ist, wird meist für das verständnis und das genieszen desselben völlig gleichgültig sein; woher Schiller den stoff zu seinem 'handschuh' oder dem Toggenburger' genommen hat, wird kein schüler fragen, wenn man ihn nicht auf die frage bringt; warum jemand, der nie ein wort über Schiller gehört hat, die 'braut von Messina' nicht voll verstehen und genieszen soll, ist kaum abzusehen. dagegen erhält be. kanntlich manches Goethesche lied doppelten reiz, wenn man den anlasz wie tag und stunde der abfassung kennt.

Also soll bei der deutschen schullectüre nur gelesen, verstanden und genossen und dann weitergeeilt werden zu einem andern bilde? mit nichten. gewisse lesestücke erfordern ein längeres vor- und nachwort, wenn das interesse voll befriedigt und der inhalt derselben gebührend ausgenutzt werden soll. andere sind von der art, dasz sie einen sonderlichen eindruck weder machen können noch wollen. warum soll man an sie nicht anknüpfen, was doch einmal besprochen werden möchte und sich geschickt anschlieszt? welches bedenken liesze sich erheben gegen eine umschau in allen den schülern bekannten litteraturwerken wegen des 'neides der götter' im anschlusz an den 'ring des Polykrates' oder (in oberclassen) gegen einen vortrag über die grundgedanken von Kants kritik der praktischen vernunft aus anlasz der erklärung der 'drei worte des glaubens'?

Dasz derartige 'excurse' nach einem schon bei der auswahl der durchzunehmenden lesestücke vorher durchdachten plane eingelegt werden, ist nach unserer ansicht nicht nur angängig, sondern sogar durchaus wünschenswert. insoweit kommen wir denen entgegen, welche aus dem lesebuche allerlei frucht für den deutschen unterricht gewinnen wollen. nur halten wir grundsätzlich daran fest, dasz an lesestücke von einigem wert nur angeknüpft werden möchte, was zur erhöhung der wirkung dient oder innerlich und wesentlich mit ihnen zusammenhängt.

Indem ich dem deutschen lesebuch gegenüber die eben gekennzeichnete stellung einnehme, weisz ich mich frei von aller schwärmerei für die von mir empfohlene gebrauchsweise. selbst unter günstigsten umständen und bei groszer begabung des lehrers (darüber kann kein kenner in zweifel sein) hält es schwer genug, eine gefüllte classe für ein lesestück, dessen inhalt ihr längst bekannt ist, wahrhaft zu erwärmen. dieser fall liegt aber vor beim deutschen lesebuche, welches ein wiszbegieriger knabe ein paar tage nach dem einkauf durchgelesen zu haben pflegt. unzweifelhaft ist mir aber, dasz ein tiefer, haftender eindruck um so eher erzielt werden kann, je mehr der unterricht dem kunstwerk gegenüber sich mit der bescheiden-dienenden stellung begnügt, welche zunächst das interesse zu wecken sucht und sodann nur die hemmnisse beseitigt, welche der unmittelbaren wirkung etwa entgegenstehen.

Ich brauche kaum zu bemerken, dasz für mich das über die deutsche classenlectüre gesagte für alle sprachliche classenlectüre gilt, insoweit sie wirklich bedeutende schriftstücke vorführt (eine fabel, eine anekdote, ein trockenes stück kriegsgeschichte zu allen erdenklichen didaktischen zwecken zu misbrauchen, würde mir so wenig einen scrupel machen wie andern). grundsätzlich nehme ich aber genau die nämliche stellung, die ich eben bezüglich des deutschen angedeutet habe, gegenüber der an andere lehrfächer gestellten zumutung ein, um der lieben 'concentration' willen beziehungen zu andern unterrichtsfächern mit den haaren herbeizuziehen, wenn sie sich nicht natürlich ergeben, und befinde mich damit in bewustem gegensatz zu den ideenverknüpfungsfanatikern. dasz jeder unterrichtszweig die beziehungen zu andern fächern und zum leben der gegenwart, die sich von selbst darbieten, nach möglichkeit ausbeutet, wünsche ich lebhaft. daran möchte man aber m. e. sich genügen lassen. läszt sich ein mathematiker im schulunterrichte auf feldmesserarbeit und versicherungswesen, ein physiker auf künstlicher zusammengesetzte maschinen, ein lehrer der geschichte auf nationalökonomie oder mercantile geographie, ein lehrer der botanik auf den handel mit culturpflanzen ein usw., so wird von allem etwas genascht, im unterrichte des einzelnen faches, vielleicht zum hohen ergötzen der lernenden, alles mögliche sonstige mit behandelt, aber wie fährt die hauptsache dabei? kann diese recht zur geltung kommen, wenn nach allen seiten irrlichteliert wird? etwas ordentliches, ernsthaftes soll aber doch, meinen wir, in allen fächern nach der Berliner decemberconferenz gelernt werden wie vor derselben.

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Wie wenig der jugendliche geist geneigt ist, nach den winken des ideenverbindungsmeisters von jedem zu jedem überzuspringen, dafür spricht schon die jedem practicus im schulamte bekannte thatsache, dasz der mathematiker in der regel auf unwissenheit stöszt, wenn er sprachliches, der philolog, wenn er naturwissenschaftliches, der geograph, wenn er geschichtliches gelegentlich berührt. 'die geister waren eben nicht auf der richtigen schiene', wird jeder

kenner darüber urteilen und sich nicht weiter ereifern. soll man es nun in dergleichen fällen machen, wie manche der neueren raten, dasz man die drehscheibe langsam wirken läszt, bis für alle das neue gleis gewonnen ist? darauf sagen wir: schade um die zeit und um die mühe. hoc age! thue nur jedes fach mit verständnis für die verhältnisse und einmal nicht einzudämmenden strömungen der gegenwart seine schuldigkeit, ohne sich sonderlich um das andere zu kümmern. ist unsere jugend nicht körperlich und geistig ganz heruntergekommen, so wird sie schon das verschiedenartige zu verdauen und in die jedem einzelnen gemäszen verbindungen zu setzen wissen.

Doch nun zurück zum deutschen lesebuch. haben wir es abgelehnt, dasz dasselbe der rechtschreibung und zeichensetzung, der grammatik, stilistik usw. andere als ganz beiläufige dienste leiste, so trifft uns von gewisser seite unentrinnbar der vorwurf: es soll also auch ferner bei der zerfahrenheit und planlosigkeit des deutschen unterrichts der unter- und mittelstufe bewenden! auf ihn erwidern wir folgendes. was bisher vielfach fehlte, war eine bis ins einzelne gehende verteilung des lernstoffes auf die einzelnen classen. diesem mangel ist durch verschiedene höchst dankenswerte neuere arbeiten abgeholfen worden. hält man sich an eine von diesen oder an eine im nächsten kreise getroffene wohlbedachte vereinbarung, so ist dem planlosen hin- und hertappen jedenfalls ein kräftiger riegel vorgeschoben. damit, dasz der oder jener methodiker behauptet, wesentlich verschiedene einzelaufgaben des unterrichts so oder so nach einheitlichem plan gemeinsam lösen zu können, ist doch nicht gesagt, dasz jeder andere versuch der lösung ein planloser sei.

Darüber, dasz die für jeden wissenschaftlich angelegten menschen äuszerst unbehaglichen und unbefriedigenden lehraufgaben der rechtschreibung und zeichensetzung bis zu einem gewissen grade besonders behandelt und eingeübt werden müssen, sind wohl so ziemlich alle einig. handelt es sich hierbei doch wesentlich um eine dressur für praktische zwecke, welche nur um so wirksamer sein kann, je weniger dabei links und rechts gesehen wird.

Aber die grammatik! was wird aus ihr? gegen eine behandlung derselben im planmäszigen anschlusz an die classenlectüre musz ich mich entschieden erklären um der lectüre wie der grammatik willen. eins von beiden musz dabei leiden, wenn nicht beide teile leiden, ist denn aber überhaupt an schulen mit fremdsprachlichem unterricht ein so groszer ballast von deutscher grammatik nötig, dasz dessen bergung als so gar schwierig angesehen werden musz? gienge es nach mir, so träte deutsche grammatik ernstlich erst ein, wenn die jungen geister insoweit gereift sind, dasz das dem deutschen eigenartige und sprachgeschichtlich wirklich fruchtbare ihnen geboten werden kann. anstalten, welche neun jahre hindurch latein treiben, können m. e. unbedenklich den grundlegenden unterricht in der lehre vom einfachen satz und seinen bekleidungen dem latein

lehrer zuschieben. natürlich musz dieser vom deutschen ausgehen und an dieses anknüpfen; das darf aber seine sache sein. wie kommt die muttersprache an vollanstalten dazu, frische jungen mit den langweiligen anfangsgründen der sprachdenklehre zu behelligen? läszt sich diese zeit nicht fruchtbarer, belebender und erquickender verwenden? was für die volks- und realschulen wie für die seminare (welche doch nur in Sachsen etwas latein treiben) dringend erforderlich sein mag, erscheint nahezu überflüssig für anstalten, welche neun jahre lang ihre schüler mit latein züchten. was für die zöglinge unserer gymnasialen anstalten systematische deutsche grammatik soll, ist mir schwer verständlich. die meisten sextaner haben die formenlehre und syntax ihrer muttersprache insoweit unbewust sich angeeignet, dasz ihnen gröbliche verstösze nicht allzu häufig begegnen; ist es der fall, so führt in der mehrzahl der fälle wohl eine geschickte berufung auf das sprachgefühl sie vom falschen auf das richtige. zur beseitigung gewisser besonders gangbarer sprachfehler läszt sich zudem auch in den verschiedenen teilen von Deutschland das nach landschaftlichen verhältnissen erforderliche thun, ohne dasz gerade casus- und moduslehre feierlich durchgenommen zu werden braucht. dagegen ist sehr mit recht neuerdings betont worden, dasz die sprache nicht blosz, ja nicht einmal überwiegend denklehre ist (s. hierzu auch meinen aufsatz in den jahrb. von 1891 s. 580 ff.), das deutsche aber zahlreiche höchst beachtliche eigentümlichkeiten besitzt, mit welchen der zukünftige gebildete mehr bekannt gemacht werden möchte, als es bislang geschehen ist. aus dieser erwägung befürworte ich, dasz der deutsche grammatische unterricht der sexta und quinta im wesentlichen, dem lateinischen den weg bereitend, den zusammengesetzten satz und die satzgefüge einübt, spätere classen dagegen das sprachgeschichtlich wichtige aus der deutschen formenlehre und syntax gereifteren schülern in verständiger auswahl vorführen. für alle diese grammatischen unterweisungen und übungen ist die ansetzung regelmäsziger stunden kaum erforderlich. ist nur ein fester plan vorhanden, so läszt sich mit zeitweilig auf diesen zweck verwendeten halben stunden ganz erkleckliches im schuljahre erreichen.

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Das nämliche möchte auch gelten von den stilistischen, lexikalischen, synonymischen usw. erörterungen, welche man für nötig erachtet. legt ein anknüpfungslustiger lehrer besondern wert darauf, derartige unterweisungen an eben gelesene stücke anzuknüpfen, so thue er es, wenn es zur beruhigung seines lehrergewissens dient.

4 dispositionsübungen im anschlusz an gedichte, zumal kleinere, sind mir geradezu bedenklich. sie fallen entweder ganz trivial aus (1. hinabtauchen ins meer, 2. aufenthalt unter dem wasser, 3. wiederauftauchen) oder laufen gefahr, dem dichter nichtgedachtes unterzuschieben. man denke nur an die verballhornung mancher ode des Horaz durch bis ins einzelne feinstens gegliederte dispositionen. übungen dieser art stelle man doch lieber in corpore vili an.

nur mute er den frischen jungen nicht zu, die sinnigkeit der anknüpfung besonders herauszuspüren, welche in stiller denkerklause ausgeklügelt worden ist.

Somit setzen wir denn, um uns einmal recht gelehrt in fremdwörtern auszudrücken, dem lehrbuchmonismus einen dualismus gegenüber, der da heiszt: lectüre und übungen. übungen sage ich, denn eine orthographisch - grammatische, stilistische usw. unterweisung kann ich mir nicht denken, welche nicht von beispielen ausgienge, solche einstreute und das beste von allem die schüler zur bildung ähnlicher beispiele aufforderte. will man als anhalt dabei, da passende beispiele nicht immer bequem zur hand sind, ein paar druckbogen benutzen, welche einen gewissen gang und fortschritt planmäszig einhalten, so haben wir nichts dagegen. wir wollen nur nicht, dasz lesestücke von wirklichem wert in einem satyrspiel über eigenschaftswörter auf ig oder lich, schwankungen der starken declination, fälle falscher volksetymologie, stamm- und bildungssilben usw. ausklingen blosz um der leidigen concentrationsschablone willen.

Habe ich im vorstehenden gegen gewisse überaus ehrenwerte bestrebungen, in den deutschen unterricht der unter- und mittelclassen mehr halt und plan zu bringen, bedenken geäuszert, so will ich zum schlusse nicht unbezeugt lassen, dasz diese scrupel mir nicht in der studierstube, sondern inmitten des frischen schulbetriebs gekommen sind als gern dankbar genieszendem, dabei aber doch kritisch-nüchternem zuhörer. der genusz wirklich packender und durchgreifender deutscher lesebuchstunden ist mir, so lange ich mit schulen zu thun habe, ebenso selten zu teil geworden, als ich vorzüglichen religions-, geschichts-, mathematik- und (in den oberclassen) deutschen litteraturstunden häufig anzuwohnen das glück hatte. in den lesebuchstunden habe ich die schüler öfters auffällig zerstreut und gelangweilt, nur ganz selten gespannt aufmerksam gefunden und im stillen manchmal treue lehrer bedauert, welche nach neuesten methodischen vorschriften 'sich und die jungens ennuyierten'. am ergötzlichsten wollte mirs immer vorkommen, wenn der lehrer ganz in seinem schriftstück, seinem Gellert oder Lichtwer, seinem Uhland oder Schiller aufgieng, dabei warm wurde und alles vergasz, was ein bedächtiger lehrer für deutsche stunden sich etwa zurechtzulegen pflegt. ob ich hierin recht geurteilt habe, die ganze frage überhaupt im rechten lichte ansehe, weisz ich nicht. jedenfalls drängte es mich, nach langer erwägung einmal offen farbe zu bekennen auf die gefahr hin, mehr widerspruch als zustimmung zu finden. in einer zeit, in der so viele neue mächte in der pädagogik wirksam sind, darf sich wohl auch gelegentlich die stimme eines bejahrteren vernehmlich machen, der im wesentlichen für den alten curs eintritt.

DRESDEN.

TH. VOGEL.

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