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in ihrer Hand, mein Aug' ruhte auf ihrem Aug. Meine Thränen flossen mit den ihrigen, und mein Lächeln begleitete das ihrige. Sie waren außer der Welt, sie waren außer Stanz, sie waren bei mir, und ich war bei ihnen. Ihre Suppe war die meinige, ihr Trank war der meinige. Ich hatte nichts, ich hatte keine Haushaltung, keine Freunde, keine Dienste um mich, ich hatte nur sie. Waren sie gesund, ich stand in ihrer Mitte, waren sie krank, ich war an ihrer Seite. Ich schlief in ihrer Mitte. Ich war am Abend der Leßte, der ins Bett gieng, und am Morgen der Erste, der aufstand. Ich betete und lehrte noch im Bett mit ihnen, bis sie einschliefen; sie wollten es so.“

Die Kinder hatten während des Winters mancherlei Krankheiten zu bestehen; durch einfache, zuträgliche Nahrung und durch Bewegung im Freien wurden sie jedoch überwunden. Mit dem kommenden Frühlinge gediehen sie an Geist und Körper. Pestalozzi erlebte es, dass die vernachlässigten Bettelkinder sich ihm in aufrichtiger Liebe und Zärtlichkeit zuwandten.

Wenn sie mir an meinen Hals fielen und mich Vater hießen, fragte ich sie: Kinder, dürft ihr eurem Vater heucheln? Ist es recht, mich zu küssen, und hinter meinem Rücken zu thun, was mich kränkt ?

Als Frucht seiner Erziehung zu schöner Menschlichkeit ist folgende Thatsache anzusehen:

Altdorf war abgebrannt. Pestalozzi erzählte seinen Kindern das Unglück. „Vielleicht sind in diesem Augenblick 100 Kinder dort ohne Obdach. Wollt ihr, dass ich 20 herrufe ?" Die Kinder riefen freudig: Ja! „Dann müsst ihr aber mit ihnen theilen," sagte er, „dann habt ihr kleinere Schnitten und halbe Teller mit Suppe." Die Kinder aber blieben fest in ihrem Erbieten.

Pestalozzi wollte unter den schwierigsten Verhältnissen den Beweis liefern, dass die Vorzüge, welche die häusliche Erziehung hat, von der öffentlichen müssten nachgeahmt werden.

Er gab den Kindern keinen eigentlichen Religionsunterricht; daran wurde er durch die Verschiedenheit der Confession seiner Zöglinge verhindert. Wo sich aber eine Gelegenheit dazu bot, legte er den Kindern ihre Pflichten ans Herz. Das Lernen suchte er, wie früher in Neuhof, mit den Arbeiten zu verbinden und beides in einander zu verschmelzen. Doch ward ihm klar, dieser Verschmelzung müsse die Elementarbildung des Lernens gesondert von der des Arbeitens vorangehen. Hier in Stanz war es auch, wo Pe= stalozzi, aus Mangel anderweitiger Gehilfen, Kinder durch Kinder unterrichten ließ. (Wechselseitiger Unterricht.)

Ein zweites, das schon früher in den österreichischen Schulen durch Felbiger eingeführt worden war, versuchte Pestalozzi eben

falls in Stanz, nämlich das Zusammenlesen und Zusammensprechen. Die Ordnung beim Unterrichte suchte Pestalozzi durch drei Mittel aufrecht zu erhalten: 1. durch die Stille, 2. durch den Takt bei gleichzeitiger Bethätigung der Massen im Chorsprechen und 3. durch eine gute Körperhaltung. Was Pestalozzi in Lienhard und Gertrud angeregt, wiederholt er in seinem Aufsaße über die Anstalt in Stanz:

Mein Zweck war, die Vereinfachung aller Lehrmittel so weit zu treiben, dass jeder gemeine Mensch leicht dahin zu bringen sein könne, seine Kinder zu lehren, und allmählich die Schulen für die ersten Elemente überflüssig zu machen.

Wie die Mutter die erste Nährerin des Physischen ihres Kindes ist, so soll sie auch von Gotteswegen seine erste geistige Nährerin sein; und ich achte die Übel, die durch das zu frühe Schulen und alles das, was an den Kindern außer der Wohnstube gekünftelt wird, erzeugt worden sind, sehr groß. Jener Zeitpunkt nähert sich, sobald wir den Unterricht so vereinfachen werden, dass jede Mutter ohne fremde Hilfe selbst lehren und dadurch zugleich immer selbst lernend fort= schreiten kann.“

Pestalozzi wäre dieser Überanstrengung erlegen, wenn ihn nicht im Juni 1799 die Franzosen aus Stanz verdrängt hätten. Sie wichen der Macht der Österreicher, kamen nach Stanz und machten die Nebengebäude des Klosters zu einem Militärhospital. Pestalozzi entließ deshalb die Kinder zu den Ihrigen und suchte sich in Gurnigl im Berner Oberlande, woselbst sich eine Heilquelle befindet, zu erholen.

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„Ich fand" schreibt Pestalozzi in Gurnig! Tage der Erholung. Jch hatte sie nöthig; es ist ein Wunder, dass ich noch lebe. Ich vergesse diese Tage nicht, so lange ich lebe: sie retteten mich, aber ich konnte nicht leben ohne mein Werk."

Gekräftigt kam Pestalozzi von Gurnigl herab und begab sich auf Anrathen eines seiner Freunde nach Burgdorf, der zweiten Stadt im Canton Bern.

6. Pestalozzi in Burgdorf.
(1799-1804.)

Wohlwollende Gönner Pestalozzis erwirkten ihm die Erlaubnis, in der untersten Schule Burgdorfs unterrichten zu dürfen. Er stieß hier auf mehrfache Gegnerschaft. Der Schulmeister glaubte, Pestalozzi wolle die Stelle an sich reißen.

„Es verbreitete sich das Gerücht," erzählt Pestalozzi, „ich könne selber nicht schreiben, nicht rechnen und nicht einmal recht lesen. Es ist an den Gassenreden

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Kein volles Jahr war Pestalozzi Burgdorfer Schulmeister, als er seine Brust ergriffen fühlte und seine Stelle aufgeben musste. Eine neue Lebensepoche begann für ihn.

Im Jahre 1800 gründete er mit einigen Gehilfen eine eigene Erziehungsanstalt in Burgdorf, die sich bald eines guten Rufes erfreute. Da jedoch im Jahre 1804 das Schloss zu Burgdorf, in welchem Pestalozzi seine Anstalt untergebracht hatte, zu Regierungszwecken in Verwendung genommen wurde, so musste er es verlassen. Die Regierung von Bern räumte ihm dafür das Kloster von Münchenbuchsee ein; allein Pestalozzi blieb hier nur kurze Zeit.

In der Zeit seiner Wirksamkeit in Burgdorf entstand sein Werk: „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" ein Werk, welches mit der „Abendstunde“ und „Lienhard und Gertrud“ unter allen seinen Schriften hervorragt.

7. Wie Gertrud ihre Kinder lehrt,

ein Versuch, den Müttern Anleitung zu geben, ihre Kinder selbst zu unterrichten.

Der Titel möge nicht irre leiten; das Buch ist nichts weniger als eine Anleitung für Mütter. In der Hauptsache enthält es Ergüsse über die Verderbtheit der Sitten in den höheren Kreisen, sowie über die elenden Zustände des armen und gedrückten Volkes und endlich Vorschläge zur Verbesserung des öffentlichen Erziehungswesens.

Bezüglich der lezteren charakterisiert er die Aufgabe, welche er sich stellte, folgendermaßen:

Ich gieng in den empirischen Nachforschungen über meinen Gegenstand von keinem positiven Lehrbegriff aus; ich kannte keinen und fragte mich ganz einfach: Was würdest du thun, wenn du einem einzelnen Kinde den ganzen Umfang derjenigen Kenntnisse und Fertigkeiten beibringen wolltest, die es nothwendig bedarf, um durch eine gute Besorgung seiner wesentlichsten Angelegen= heiten zur innern Zufriedenheit mit sich selbst zu gelangen."

Es handelt sich also in dem Werke um die Fragen: welche Kenntnisse und Fertigkeiten sind den Kindern nothwendig, und in welcher Weise sind sie zu vermitteln?

Pestalozzi geht in seinem Buche weniger auf die Fertigkeiten und deren Methode, als vielmehr auf die Kenntnisse, und zwar nach Anfang, Weg und Ziel derselben ein.

Der Anfang aller Kenntnisse ist ihm die Anschauung, das lezte Ziel: der deutliche Begriff. Er sagt:

„Wenn ich zurücksehe und mich frage: was habe ich den eigentlich für das Wesen des menschlichen Unterrichts geleistet? - so finde ich: ich habe den höchsten obersten Grundsaß des Unterrichts in der Anerkennung der Anschauung, aus dem absoluten Fundament aller Erkenntnis festgeseßt und mit Beseitigung aller einzelnen Lehren das Wesen der Lehre selbst und die Urform aufzufinden gesucht, durch welche die Ausbildung unseres Geschlechts durch die Natur selber bestimmt werden muß."

Den Begriff Anschauung“ definiert Pestalozzi also:

"

„Sie ist nichts anders, als das bloße vor den Sinnenstehen der äußern Gegenstände und die bloße Regemachung des Bewusstseins ihres Eindruckes." Pestalozzi führt die sinnliche Anschauung auf drei Hauptpunkte zurück:

=

„Die ganze Summe aller äußern Eigenschaften eines Gegen standes vereinigt sich im Kreise seines Umrisses (Form) und im Verhältnis seiner Zahl und wird durch Sprache dem Bewusstsein eigen gemacht."

Von diesem dreifachen Fundament: Form, Zahl und Wort muss nach Pestalozzis Anschauung die Unterrichtskunst ausgehen und 1. die Kinder lehren, „jeden Gegenstand gesondert und als Einheit" ins Auge zu fassen;

2. „sie die Form eines jeden Gegenstandes, d. i. fein Maß und sein Verhältnis kennen zu lehren“ und

3. „sie so früh wie möglich mit dem ganzen Umfang der Worte und Namen aller von ihnen erkannten Gegenstände bekannt zu machen“.

Das erste Elementarmittel aller menschlichen Erkenntnis ist nach Pestalozzi die Form; die Messkunst, Zeichenkunst und Schreibkunst beschäftigen sich mit ihr.

Das zweite Elementar mittel ist die Zahl; sie ist die Grundlage aller Rechenkunst.

Die dritte ist das Wort.

Beim Sprachunterricht beginnt Pestalozzi mit der Tonlehre; dieser folgt die Wortlehre und der die Sprachlehre.

1. Die Tonlehre sollen die Mütter beginnen, indem sie die Töne, aus denen die Sprache besteht, und alle möglichen einfachen Lautverbindungen in Gegenwart des Kindes, welches in der Wiege liegt, täglich repetieren, damit sie sich dem Säugling einprägen, noch ehe er einen einzelnen nachzusprechen vermag.

2. Die Wortlehre besteht in Reihenfolgen von Namen der

bedeutendsten Gegenstände aus allen Fächern des Naturreichs, der Geschichte und der Erdbeschreibung, der menschlichen Berufe und Verhältnisse.

3. Die Sprachlehre. Hier müssen sich nach Pestalozzi die Übungen darauf erstrecken:

a) einen Gegenstand zu benennen;

b) der Merkmale eines Gegenstandes bewusst zu werden und diese benennen zu lernen;

c) die Beschaffenheit der Gegenstände durch Zeit- und Nebenwörter näher zu bestimmen.

Johannes Ramsauer, ein Schüler Pestalozzis, schildert den Unterricht in dessen Schule und sagt unter andern :

Schulgerecht lernte ich da nichts, so wenig als andere Schüler; sein (Pestalozzis) heiliger Eifer aber, seine hingebende, sich selbst ganz vergessende Liebe, seine, sogar in die Augen der Kinder fallende, ernste, gedrückte Lage machten den tiefsten Eindruck auf mich und knüpften mein kindlich dankbares Herz auf ewig an das seinige.

Ein deutliches Bild dieser Schule zu geben ist unmöglich, daher nur einige Bruchstücke. In dieser Schule sollte nach Pestalozzis Ideen aller Unterricht ausgehen und wieder zurückgeführt werden auf Sprache, Zahl und Form. Ein eigentlicher Schulplan war nicht vorhanden, auch kein Stundenplan, weshalb sich auch Pestalozzi an keine bestimmten Stunden band, sondern meistens 2-3 Stunden dasselbe trieb. Wir waren etwa 60 Knaben und Mädchen von 8—15 Jahren, hatten Unterricht von 8-11 Uhr vormittags und von 2-4 Uhr nachmittags. Aller Unterricht beschränkte sich auf Zeichnen, Rechnen und Sprachübungen. Es wurde weder gelesen noch geschrieben, daher hatten die Schüler weder Schreibnoch Lesebücher; ebenso wenig zum Rechnen hatten wir, je zwei und zwei Schüler zusammen, eine kleine, auf Pappe gezogene Tabelle, auf der in viereckigen Feldern Punkte verzeichnet waren, die wir zählen, zusammenzählen, abziehen, mit einander multiplicieren und in einander dividieren mussten. Aus diesen Übungen bildeten Krüsi und Buß zuerst die Einheiten- und später die Bruchtabellen.

Das Beste, was wir bei Pestalozzi hatten, waren die Sprachübungen, wenigstens diejenigen, die er an den Tapeten des Schulzimmers mit uns vornahm, und die wahre Anschauungsübungen waren.“

8. Pestalozzi in Iferten (Yverdon).

Wie schon früher gesagt wurde, blieb Pestalozzi in Münchenbuchsee nur kurze Zeit; schon 1805 verlegte er sein Institut nach Iferten (Yverdon) am Neuenburger See und hielt es daselbst bis 1825. In dieser Zeit erstieg Pestalozzi den Gipfel seines Ruhmes.

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