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„Die Überbürdung der Lehrers mit Schülern ist nach meiner Überzeugung eine der wichtigsten, aber bei uns nach wenig erforschten und gewürdigten Ursachen jener Verwahrlosung, die sich in den untern Schichten des Volkes durch Verbrechen gegen die Sicherheit der Person und des Eigenthums kennzeichnet und nach einer Seite hin durch überfüllung der Gefängnisse wächst. Unsere sogenannten Strabanzer und Kappelbuben mit ihrem cynischen Wiß und der raffinierten Verschlagenheit, die vor keinem Mittel zurückschreckt, sind zum größten Theil Resultate von Entwicklungen, deren Anfänge an der überfüllten Schule haften. Der nächstbeste Gerichtsfall bietet Gelegenheit, diese Behauptung zu prüfen, und ich besorge nicht, dass sie sich als unbegründet beweisen werde.“

Überblicken wir die österreichischen Schulzustände dieses Zeitraumes im Zusammenhange mit jenen Normen, welche die „Politische Schulverfassung“ vorschrieb, und kann sich der Unbefangene dabei der Ansicht nicht verschließen, dass troß der beengenden geseßlichen Schranken, das Volksschulwesen in Österreich einen Entwicklungsgang nahm, welcher der Neugestaltung derselben die Wege ge= ebnet hat; so kann das Urtheil über die Männer der Unterrichtsverwaltung wie über jene Schulmänner, in deren Händen die Volksbildung lag, kein anderes als ein günstiges sein.

Die preußische Landschule.

Friedrich Eberhard von Rochow

war 1734 in Berlin geboren, wurde auf der Ritterakademie in Brandenburg erzogen und trat in dem Alter von 15 Jahren in die Garde ein, in der er die ersten Feldzüge des siebenjährigen Krieges mitmachte. Als Verwundeter kam er nach Leipzig, wo er Gellert kennen lernte, der ihn in kurzer Zeit lieb gewann und ihm Liebe zu wissenschaftlichen Studien einflößte. Als Rochow infolge einer neuen Verwundung kriegsuntüchtig wurde, zog er auf sein Gut Rekahn und betrieb neben der Verwaltung seiner Güter wissenschaftliche Studien; auch lebte er in wohlwollendem Verkehr mit seinen Gutsangehörigen, unter denen jedoch große Unwissenheit herrschte.

Nach Beendigung des siebenjährigen Krieges stand es nämlich mit Rücksicht auf die Bildungsverhältnisse des Volkes in Preußen nicht anders als in Österreich. Während jedoch hier die Schulverhältnisse Dank der Bemühungen der Kaiserin Maria Theresia einen verhältnismäßig raschen Aufschwung nahmen, waren die Bemühungen Friedrichs II. mit weniger Erfolg begleitet. Der Staat hatte

kein Geld, der Adel kein Interesse an der Hebung der Volksschule, die Lehrer waren der Mehrzahl nach träge und unwissend, und so kam es, dass Friedrich im Jahre 1779 verordnete, dass Invaliden, die lesen, rechnen und schreiben könnten, und sich zu Schulmeistern auf dem Lande und sonsten gut schickten, employiret werden sollten."

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Friedrich Eberhard von Rochow.

Während den meisten Gutsbesizern die Unwissenheit ihrer Gutsangehörigen geradezu erwünscht war, dachte Rochow wahrhaft menschlich: Sollte nicht jeder Staat unsäglich große Vortheile davon haben, wenn alle Menschen gebildet würden? Aber das Wissen gründet sich auf Religion, die im Verstande und Wollen wirkt, und ohne gute Erziehung und Unterweisung dem Menschen nicht mitgetheilt werden fann."

Rochow hielt jeden Menschen für bildungsfähig, aber auch für bildungsbedürftig, und mit Rücksicht darauf war er ein Philanthrop im edelsten Sinne des Wortes. Denn er zeichnete sich vor den Dessauer Philanthropen dadurch vortheilhaft aus, dass er ohne jeden Nebengedanken auf materiellen Gewinn und auf Ruhm seine

Sorgfalt armen Bauernkindern zuwandte, während jene nur Knaben „der bessern Stände“ erzogen. Aus eigenen Mitteln errichtete er Schulen, er stellte Lehrplan und Methode fest, bildete Lehrer heran und arbeitete Schulbücher aus. Geradezu epochemachend war sein „Kinderfreund“. Den Zweck dieses Buches bezeichnet er kurz dahin, dass er die große Lücke zwischen Fibel und Bibel habe ausfüllen wollen. Durch den Kinderfreund sollte

1. die Aufmerksamkeit der Schüler geübt werden, indem ein Kind nach dem andern außer der Reihe zum Fortfahren im guten Lesen aufgefordert würde;

2. sollten Sprechübungen in deutlicheren und verständlicheren Ausdrücken an den Lesestoff geknüpft;

3. sollte ein leichter Erzählungs- und Gesprächston erzielt und 4. durch den Inhalt sollten alle Vorbereitungen zur christlichen Tugend gefördert werden.

Rochows Kinderfreund enthält nicht, wie die späteren Lesebücher, Stücke von Volksschriftstellern, auch nicht solche, welche Wissensstoff für den Realunterricht darbieten; sondern in allen Stücken tritt die praktische Absicht hervor, eine klare, verständige Gesinnung zu fördern. Namentlich ist auch ein Hauptgewicht auf die Beseitigung abergläubischer Vorurtheile gelegt. Ein Beispiel möge die erstbezeichnete Tendenz Rochows vergegenwärtigen :

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Die Cantons-Revision.

Es war einmal im Kriege nöthig, daßs Rekruten mussten ausgehoben werden, und der Officier ließ deswegen die Eingeschriebenen zusammenkommen. Unter diesen war einer, der weinte sehr. Schäme dich, sagte der Officier: bist du ein treuer Unterthan, und fürchtest du dich, deinem Könige und dem Vaterlande zu dienen, wenn deine Dienste nöthig sind! Ach Herr! sagte der Bursche, aus Furcht weine ich nicht; aber ich habe eine siebenzigjährige gichtbrüchige Mutter und eine Schwester, welche durch die Pocken blind geworden, und diese beiden habe ich bisher mit meiner Arbeit ernährt. Der Officier fragte nach, ob dieses sich also verhielte; und als er es wahr befand, ließ er den Burschen zurück.

Nach zwei Monaten starb die alte Mutter, und kurz darauf die blinde Schwester; und nun, sobald sie begraben waren, gieng der junge Bursch zum Regiment und meldete sich. Denn er sprach bei sich selbst: Nun hält mich keine andere Pflicht ab, meinem Könige zu dienen, und wenn sich der gute Officier an mir nicht betrogen findet, so ist er gegen andere ebenso gütig, als er es gegen mich gewesen ist.“

„Edle Gesinnungen sind an keinen Stand gebunden.“

Ein treuer Mitarbeiter des edlen Rochow war der talentvolle Lehrer Bruns. Mit ihm übte sich Rochow täglich im Katechisieren. Wie einfach diese Katechesen ausgeführt wurden, möge folgende Besprechung des obenstehenden Lesestücks zeigen:

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2. Warum ist denn das aber auch in Friedenszeiten nöthig?

K. Damit immer Soldaten da sein.

L. Was that der Officier?

K. Er ließ die Eingeschriebenen zusammenkommen.

2. Die Eingeschriebenen?

K. In der Rolle?

2. Was ist das?

K. Ein großes Buch.

Wo mögen sie eingeschrieben sein?

2. Was steht in diesem Buche?

K. Die Namen der jungen Bursche.

L. Weiß denn der Officier, welche junge Bursche da sind?

K. Ja.

2. Weiß er denn eure Namen auch?

K. Ja.

L. Woher?

K. Wenn der Officier kommt, so schreibt sie der Officier ein, und weiß also

die Namen.

2. Wozu also dies große Buch?

Niedergefäß, Geschichte der Pädagogik.

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K. Damit er die jungen Bursche kenne.

2. Unter der Geschichte steht ja wohl etwas?

K. Ja, edle Gesinnungen sind an keinen Stand gebunden.

2. Was heißt edle Gesinnungen?

K. Gute Gesinnungen.

L. Was heißt das: sind an keinen Stand gebunden?

K. Die kann jeder Stand haben.

2. Was heißt das: jeder Stand kann sie haben?

K. Alle Menschen.

2. Der Officier war wohl nicht gut gesinnt?

K. O ja.

2. Aber der junge Bursch?

K. Auch der.

L. Wie so?

K. Zeigen der Reihe nach verschiedenes Gute von ihm an.

2. Wer von beiden war nun gut gesinnt.

K. Alle beide.

2. In jedem Stande, meint ihr, kann man gut gesinnt sein; also könnt ihr auch wohl gut gesinnt sein?

K. Ja.

2. Wenn ein Kind dächte, seinem Lehrer Freude zu machen, was hätte das

für Gesinnungen?

K. Gute Gesinnungen

2. Sagt mir doch mehrere Beispiele.

K. Seinen Eltern keinen Verdrußß machen.

2. Noch mehr!

K. Freundlich gegen andere Leute sein.

2. Das kann ja aber wohl nicht helfen?

K. Ja.

L. Was denn?

K. Die Leute sind einem wieder gut.

L. Lässt sich aus der Geschichte sonst noch was lernen?
K. Geben nun der Reihe nach noch verschiedenes an.

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Das Lesen im Kinderfreund und die Besprechung des Lesestoffes bildete den Kernpunkt der ganzen Schulthätigkeit, an der sich selbst Frau von Rochow betheiligte. Im übrigen wurde nach einem genauen Lehrplane gearbeitet, die Disciplin war militärisch und die Stufenfolge der Gegenstände nach den zwei Classen der Schule geordnet. Es war bestimmt:

„Der erste Unterricht für Kinder sei so sinnlich und angenehm als nur immer möglich. Der Lehrer fange nicht sogleich und allein mit dem Bücherunterrichte an, sondern er unterhalte das Kind durch leichte, seinen Fähigkeiten angemessene Gespräche über allerlei ihm bekannte und auf die Sinne einwirkende

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