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zeigten sie Bosheit, so hätte ich sie gern umgebracht. Das war freilich nicht der rechte Weg, sie gelehrt und weise zu machen. Ich wandte nur drei Erziehungsmittel an, welche immer unnüß und oft gefährlich für die Kinder sind, nämlich das Rühren, das Raisonnieren nnd den Zorn. Bald rührte ich mich selbst bis zum Weinen, und wollte dadurch den einen Knaben rühren, als wäre der einer wahren Herzlichkeit fähig; bald erschöpfte ich mich gegen ihn mit Darlegung von vernünftigen Gründen, als wenn er im Stande gewesen wäre, mich zu verstehen. Der andere Knabe war noch unbequemer; denn da er nichts verstand, nichts antwortete, durch nichts gerührt wurde, dazu eine unüberwindliche Hartnäckigkeit hatte, so triumphierte er nie besser über mich, als wenn er mich in Wuth versette; denn dann war er der Weise, ich aber war das Kind.

Im Jahre 1741 gieng Rousseau nach Paris, wo er sein Glück zu machen hoffte. Hier veröffentlichte er unter anderen sein musicalisches Ziffer system.

Rousseau war ein Mann von großer geistiger Begabung und ganz besonders gewandt als Schriftsteller, so dass die gebildete europäische Welt des vorigen Jahrhunderts durch seine Schriften in Bewegung gesetzt wurde.

Bereits im Jahre 1740 hatte er eine akademische Preisaufgabe in glänzendster Weise gelöst. Diese Frage lautete: Haben die Fortschritte der Wissenschaften und Künste zur Verderbnis, oder zur Läuterung der Sitten beigetragen?" Rousseau behauptete das erstere. Er versuchte das geschichtlich zu erweisen, unter andern Beispielen an dem der entarteten Griechen und Römer im Vergleich mit den ungebildeten, aber sittlich kräftigen Germanen. Seine glänzende Dialectik trug ihm den Preis ein.

Eine andere Schrift: „Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen" erregte gleichfalls großes Aufsehen. Er hielt den wilden und den gesitteten Menschen gegen einander; das Mein und Dein, Eigenthum und Reichthum, die daraus entstehende Obermacht und üppigkeit erklärt er für Quellen tausend. fachen Elends. Er ruft deu Menschen zu: „Kommt in die Wälder und werdet Menschen“. Sie sollten, sich selbst überlassen, gleich den Thieren leben, das sei der Stand der Unschuld. und der anerschaffenen Einfalt. „Eigenthum und Verträge haben den Menschen unglücklich gemacht; Eisen und Korn haben den Einzelnen zwar gebildet, das menschliche Geschlecht aber zugrunde gerichtet.“

Rousseau sandte die Abhandlung an Voltaire, der sich darüber also äußerte: „Nie hat jemand so viel Geist aufgewendet, um uns zu Bestien zu machen. Liest man Ihr Buch, so wandelt einen die Luft an, auf allen vieren zu laufen. Jedoch, da ich schon über 60 Jahre diese Gewohnheit abgelegt, so fühle ich leider, dass es mir unmöglich ist, sie wieder anzunehmen, und ich überlaffe andern den Naturgang, welche deffen würdiger find als Sie und ich."

2. Rousseaus „Emil“.

Im Jahre 1762 erschien von Rousseau: „Emil, oder: über die Erziehung" (Emile, ou de l'Education). Diese Schrift ist, trog ihrer Verkehrtheiten und Irrthümer, von epochemachender Bedeutung, „indem Rousseau hier zuerst ein Gemälde der Entwicklung eines ganzen menschlichen Lebens von einem bestimmten Principe aus entrollt“.

Rousseaus „Emil" ist nur ein eingebildeter Normalzögling; die Erziehung desselben soll Muster und Vorbild einer wahren Erziehung darstellen. Das Buch zerfällt in 5 Hauptabschnitte und zwar nach den wichtigsten Entwickelungsperioden „Emils“. Der erste Theil handelt von der Behandlung neugeborner Kinder, insbesondere Emils, bis zu dem Zeitpunkte, da dieser sprechen lernt. Der zweite Theil umfasst seine Erziehung von diesem Zeitpunkte bis zum zwölften Jahre; der dritte Theil endet, da der Knabe 15 Jahre alt wird; der vierte Theil führt ihn bis an die Zeit des Heiratens; im fünften Theile wird Sophie, Emils Frau, und deren Erzieherin geschildert. Emil" wird nicht vom Vater, sondern von einem Hofmeister erzogen, der diesen Posten fünfundzwanzig Jahre verwalten soll, und zwar während der ersten Kindheit im Verein mit der Amme.

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Die erste Erziehung

von der Geburt bis zum Alter von drei Jahren ist eine physische. Man befriedige alle physischen Bedürfnisse des Kindes, weil sie natürliche sind und dulde keine Einengung der physischen Freiheit durch unnatürlichen Zwang, wie Wickelbänder und dergl. Von den natürlichen Bedürfnissen unterscheide man die eingebildeten, deren Befriedigung das Kind durch das Weinen fordert und die in der Laune ihren Grund haben; die beachte man nicht, weil sie sonst zur Gewohnheit werden.

Die zweite Periode der Kindheit

beginnt mit dem Sprechen. Man erziehe die Kinder nicht für zukünftige Zwecke, sondern lasse sie ihre Kindheit genießen in kindlichen Spielen. Seine Wünsche

soll das Kind möglichst selber befriedigen, denn die Natur hat jedem so viel Kraft gegeben, dass er die für sein Alter geziemenden Wünsche befriedigen kann. Gerade in dem Gleichgewicht des Wollens und Könnens liegt die irdische Glückseligkeit des Menschen, sowie seine Freiheit, und die Freiheit ist das höchste Gut. Dies ist der Fundamentalsaß der Erziehung. Die Unabhängigkeit von andern Menschen erfordert aber die Ausbildung der eigenen Kraft; der Überfluss an Kraft macht, ebenso wie der Mangel, das Kind herrisch. Man befehle demselben nichts, sondern lasse es nur die Nothwendigkeit und den Zwang fühlen, den die Dinge oder Verhältnisse ausüben. Der Ungehorsam rächt sich dann von selber und macht weitere Strafen überflüffig.

Die Bildung der Sinne ist für dieses Alter das Wichtigste, während die Weckung des Moralischen nur auf das Nothwendigste zu beschränken ist. Die erste moralische Idee, deren sich das Kind bewusst werden muss, ist die Idee des Eigenthums, da sonst leicht Hang zu Betrug und Lüge geweckt wird. Auch hier mögen die unabweislichen Folgen die einzige Strafe sein; doch suche man den Zögling vor den Lastern zu bewahren, indem man jede Gelegenheit hiezu abschneidet. Äußere Belohnungen stacheln nur den Ehrgeiz an und sind deshalb verwerflich.

Der Unterricht beschränke sich nur auf das für das Kind Verständliche, also auf das sinnlich Wahrnehmbare. Aller Unterricht sei S a chunterricht. Unterrichtsgegenstände sind demnach: Messen, Zeichnen, Geometrie, Sprechen, Singen. Bücher sind durchaus schädlich.

Die dritte Periode

währt vom 12. bis 15. Jahre, sie ist die Zeit der ernsten Arbeit, zu der die angeborne Wissbegierde Kraft und Luft gibt. Das Unterrichtsobject seien nur Thatsachen, keine moralischen Betrachtungen. Sein Wissen beruhe nur auf eigener Beobachtung, nicht auf Autoritätsglauben. So lerne er Industrie und mechanische Künste kennen und erlerne selbst ein Handwerk.

Die vierte Periode

beginnt mit der Geschlechtsreife. Jezt treten die moralischen Beziehungen in den Vordergrund. Die Quelle aller Leidenschaften ist die Selbstliebe, die an sich natürlich, leicht in Selbstsucht ausartet; so entstehen die Leidenschaften.

Mit dem socialen Leben werde der Zögling bekannt gemacht, um eine Wahl für seine künftige Stellung darin treffen zu können.

In Bezug auf Religion erfahre er nur die allgemeinsten Thatsachen und werde nicht für eine bestimmte Secte erzogen. Dagegen bilde er durch das Studium der Literatur oder den Besuch des Theaters seinen ästhetischen Geschmack.

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A. Zur ersten Periode. 1)

1. Natur und Kunst.

‚Alles ist gut, wie es aus der Hand des Schöpfers hervorgeht, alles artet aus unter den Händen des Menschen. Er zwingt ein Land die Früchte eines andern hervorzubringen, einen Baum das Obst eines andern zu tragen; er vermengt die Klimate, Elemente und Jahreszeiten; er verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seinen Sclaven, stellt alles auf den Kopf, verunstaltet alles; er liebt die Missbildung, die Ungeheuer; nichts will er so, wie es die Natur gemacht, selbst den Menschen nicht. Man muss ihn, wie ein Schulpferd, für ihn abrichten, oder modisch, wie einen Baum seines Gartens zustußen. Geschähe dies nicht, so würde alles noch schlimmer gehen, unser Geschlecht will nicht bloß halb gemodelt sein. In dem Zustande, worin sich jezt die Dinge befinden, würde ein Mensch, der von seiner Geburt an sich selbst überlassen unter den andern lebte, am meisten entstellt werden. Vorurtheile, Autorität, Zwang, Beispiel, alle geselligen Einrichtungen, welche uns über dem Kopf zusammenschlagen, würden in ihm die Natur ersticken und nichts an ihre Stelle seßen. Er würde einem Bäumchen gleichen, das, zufällig auf einer Straße gewachsen, bald verkommen muss durch die Vorübergehenden, welche es von allen Seiten stoßen und nach allen Richtungen biegen. Ich wende mich an dich, zärtliche vorsichtige Mutter, die du dein Kind von der Landstraße zu entfernen und das aufkeimende Bäumchen vor dem Stoße menschlicher Meinungen zu bewahren verstandest."

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2. Drei Erzieher.

‚Wir kommen schwach auf die Welt und bedürfen Kräfte, entblößt von allem, und bedürfen Beistand. Alles, was wir bei unserer Geburt nicht haben, und brauchen, wenn wir erwachsen sind, das wird uns durch die Erziehung gegeben. Die Erziehung erhalten wir durch die Natur, oder die Menschen, oder die Dinge. Die innere Entwickelung unserer Kräfte und unserer Organe ist die Erziehung der Natur; der Gebrauch, welchen man uns von dieser Entwickelung machen lehrt, ist die Erziehung durch Menschen, und was wir durch eigene Erfahrung an den auf uns wirkenden Gegenständen lernen, ist die Erziehung durch Dinge."

3. Neugeborne Kinder. Mütter. Ammen.

,,Hebammen modeln den Kopf der Kinder äußerlich, Philosophen innerlich; die Karaiben sind besser daran als wir.

Das Wickeln der Kinder ist die unnatürlichste Marter, es hemmt alle nothwendige Bewegung der Glieder und des Blutes. Wärterinnen haben es aus Bequemlichkeit erfunden.

Mütter stillen ihre Kinder nicht mehr; Ammen theilen des Kindes Liebe mit der Mutter, welche ihrem Vergnügen nachgeht. Hierin liegt ein Hauptgrund

1) Vergl. Raumer, Gesch. d. P. II. 225.

der Auflösung aller Familienverhältnisse, aller gegenseitigen Liebe unter den Familiengliedern; jeder denkt nur an sich und geht seinem Gelüfte nach. Der Reiz des Familienlebens ist aber das beste Gegengewicht böser Sitten.

Entgegengesezt ist das verweichlichende Verziehen der Kinder von Seiten der Mütter. Schont doch die Natur des Kindes nicht; durch Zahnen und anderes macht sie ihm viel Schmerzen und härtet es ab. Warum folgt ihr hierin nicht der Natur? Überhaupt behandelt man die Kleinen meist verkehrt. Entweder thun wir alles, was ihnen beliebt, oder fordern von ihnen, was uns beliebt; wir unterwerfen sie unsern oder uns ihren Launen. So befiehlt das Kind ehe es nur reden, gehorcht, ehe es nur handeln kann, es wird ein Mensch nach unserer Phantasie, kein Naturmensch aus dem Kinde. Soll es seine ursprüngliche Eigenthümlichkeit bewahren, so sorgt für Erhaltung derselben vom Augenblick der Geburt, bis es zum Manne heranwächst."

4. Vater.

„So wie die Mutter die wahre Amme des Kindes ist, so ist der Vater deffen eigentlicher Lehrer. Aber der gibt vor, nicht Zeit zu haben, darum werden die Kinder in Pensionen, Alumnäen 2c. ausgethan, wo sie sich von der Liebe entwöhnen; zerstreute Kinder kennen einander kaum. Es liegt ein schwerer Fluch auf Verabsäumung der Vaterpflicht.“

5. Hofmeister. Zögling.

„Der anderweitig beschäftigte Vater sucht nun einen Hofmeister. Dieser sei selbst gut erzogen und jung, vor allem darf er nicht für Geld zu haben, kein Mietling sein. Er coordiniere sich fast dem Zögling, sei sein Gespiele, bleibe von dessen Geburt an etwa 25 Jahre bei ihm, sei ihm Lehrer und Erzieher, wie der Zögling zugleich des Hofmeisters Schüler ist.

Dieser Zögling Emil

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braucht kein eminenter Kopf zu sein, er sei aber von guter Herkunft, reich und eine Waise. Leben jedoch seine Eltern, so mag er diese ehren, aber nur dem Hofmeister hat er zu gehorchen. Hofmeister und Zögling müssen ihr wechselseitiges Verhältnis als unauflöslich ansehen, wofern sie sich einander nicht entfremden sollen.

Der Zögling sei ferner aus einem Lande der gemäßigten Zone, etwa aus Frankreich, er sei gesund: Krankenwärter möge er (Rousseau) als Hofmeister nicht sein, er möge kein Kind erziehen, das sich und anderen zur Last fiele. Der Leib muss Kraft haben, um der Seele zu gehorchen; je schwächer er ist, um so mehr befiehlt er, je stärker, um so beffer gehorcht er.

Die Arzneikunst macht uns niederträchtig, heilt sie auch den Leib, so tödtet fie doch den Muth. Mäßigkeit und körperliche Arbeit vertreten die Medicin Ärzte mit Recepten, Philosophen mit Präcepten, Priester mit Ermahnungen machen das Herz seig und sind Ursache, daß man das Sterben verlernt. Von Natur leidet der Mensch standhaft und stirbt in Frieden."

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