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unten gesehen, gar verschieden aus und ist auch in Wirklichkeit nur in der Wurzel eins.

Neben solchem Allgemeinen, das uns die plöglich erwachte Vorliebe für Niezsche erklärt, steht aber noch ein in Niezsches Persönlichkeit liegendes Besonderes. Niezsche selber ist ein durch und durch eigenartiger und interessanter Mensch. Interessant vor allem deshalb, weil er nicht so auf den ersten Blick durchsichtig und verständlich ist; er selbst weiß, daß er eigentlich immer eine Maske vorgebunden hat. Und er ist ein widerspruchsvoller Mensch; Schopenhauer mit allen in ihm zusammengepackten Gegensäßen ist ein Wunder von Einheitlichkeit gegenüber den harten und hart zusammenstoßenden Widersprüchen in Niezsches Wesen. Auch das ist an sich kein Tadel: geniale Menschen sind immer irrational und widerspruchsvoll; nur die ganz trivialen sind nach logischer Schablone konstruiert, ein Rechenexempel, das ohne Rest aufgeht. Widersprüche aber reizen zum Ergründen, Masken reizen zum Demaskieren; und so ist Nietzsche eine reizvolle rätselhafte Erscheinung, seine Persönlichkeit ein großes Problem.

Dieses Problem aber „der Fall Nietzsche" erweitert sich zum Zeitproblem: Nietzsche selbst fühlte sich als leidend an der großen Krankheit der Zeit, fühlte sich als Dekadent. Wer ihn ergründet, Wer ihn ergründet, begreift somit die Krankheit unserer Zeit und das Dekadente an ihr, begreift die Moderne". Und endlich, Nießsche ist tragisch: ein genialer Mensch, der noch lebt und doch geistig tot ist, der mitten im Wirken und Schaffen, gerade in dem Augenblick, wo seine Zeit kommt, von der Nacht überfallen wird, in der niemand mehr wirken kann! Wie in der antiken Tragödie auf die Hybris die Nemesis folgt, so wird dieser Verkündiger des Übermenschen, der sich selbst als Übermenschen fühlt, in den trostlosesten mensch

lichen Zustand, in den eines Untermenschen hinab= geschleudert, der Mitleidslose wird zum Gegenstand des allgemeinen und eines ganz besonderen Mitleids.

Hierauf beruht schließlich auch für uns die Berechtigung, von einem noch Lebenden rückhaltlos zu sprechen. Sein Geist gehört den Toten an, wie über einen Toten kann man von ihm reden, nach dieser Seite hin wirklich sine ira et studio. Daß aber die Kritik vor diesem toten Mann in Weimar und seinem unsagbar traurigen Geschick nicht pietätvoll verstummen muß, dafür sorgt der Korybantenlärm seiner Anhänger, vor dem schon ihm selber am meisten graute: er fürchtete mehr das Verstandenwerden als das Mißverstandenwerden; und doch fehlt es auch an diesem leßteren nicht. Gerade weil so viele heute sich an ihn herandrängen und so laut sich zu ihm bekennen, ist dem Nietzsche-Kultus gegenüber besondere Vorsicht, die eindringendste und rücksichtsloseste Kritik notwendig. Das ist schließlich keine Pietätlosigkeit, sondern ein Akt der höchsten Pietät, ihn durch Verständnis zu schüßen gegen seine eigenen Freunde.

Und nun, womit sollen wir beginnen? Wie es sich bei der Beschäftigung mit einem Individuum geziemt, mit dem ganz Individuellen und Persönlichen, mit der Erzählung seines Lebens bis zu seinem schriftstellerischen Auftreten, seinem Eingreifen in die Fragen und Bewegungen der Zeit. Auch der Strom fängt klein und still an und wächst erst langsam heran zu einer menschenverbindenden ge= waltigen Verkehrsader der Welt. Und so wächst auch der Mensch nicht sowohl aus seiner Zeit heraus als vielmehr in seine Zeit hinein, wir sehen ihn sozusagen aus einem Kind des engen häuslichen Kreises allmählich erst zu einem Sohn seiner Zeit und zu einem Mann werden, der ihre Interessen teilt und als bedeutender und genialer Mensch ihr Interesse einflößt und sie seinerseits beeinflußt und

bestimmt. So beginne ich auch bei Niezsche damit, daß ich schlicht und einfach von seiner Jugend erzähle und zusehe, wie die verschiedenen Interessen allmählich in ihm erwachen und wie er sich entwickelt und wandelt, bis er schließlich fertig vor uns steht als Dichter und Denker, als Philosoph und Prophet, als der große Rätseldeuter seiner Zeit, der ihr doch vor allem das größte Rätsel mit seiner eigenen Persönlichkeit zu raten aufgiebt, es aber selber nicht zu deuten und zu lösen vermag.

Nietzsches Kindheit und Jugend.

In seinen späteren Jahren, als Nietzsche immer ge= ringschäßiger über die Deutschen und ihre Barbaren- und Philisterkultur dachte und urteilte, that er sich etwas darauf zu gut, daß er nicht germanischer, sondern slavischer Abkunft sei. Die Familie Niezky sollte nämlich von einem polnischen Grafengeschlecht herstammen, das zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts aus religiösen Gründen Polen verlassen und nach Ablegung seines Adels sich in Deutschland niedergelassen habe; 1884 hat er sich von einem findigen Polen sogar durch ein Schriftstück düpieren lassen, das dafür den urkundlichen Beweis erbringen sollte. Ihm schienen die Polen begabter als die Deutschen; in der alten polnischen Verfassung entsprach das Veto jedes einzelnen Edelmanns gegen den Racker von Staat seinem stark ausgeprägten Individualismus und seinen eigenen anarchistischen Neigungen; die Musik des polnischen Chopin verehrte er insbesondere auch deshalb, weil sie sich von allen deutschen Einflüssen, von dem Hang zum Häßlichen, Dumpfen, Kleinbürgerlichen, dem Täppischen und Wichtigthuerischen freigemacht habe: daher freute er sich, wenn man ihn als Polen anredete, wie über eine Auszeichnung und Ehre, er kam sich dadurch interessanter vor. Und auch das Grafengeschlecht imponierte ihm; wie eine Vorwegnahme seiner späteren Hochschäzung der edlen Rasse nimmt sich die Begründung aus, mit der er als Knabe das Lügen für verwerflich erklärte: er lüge nicht, weil sich das für

einen „Grafen Niezky“ nicht schicke. In Wirklichkeit war sein Vater freilich ein guter Deutscher, ein einfacher Bürgerlicher, protestantischer Pfarrer in Röcken bei Lüßen, der seinem ihm am 15. Oktober 1844 geborenen ersten Kinde aus Verehrung für den am selben Tage seinen Geburtstag feiernden König Friedrich Wilhelm IV. diese beiden Namen gab. So stand gewissermaßen die Romantik als guter oder als böser Stern schon über seiner Wiege.

Wer Heinrich v. Treitschkes Jugendgeschichte kennt, der weiß und versteht, was eine kräftige Vaterhand einem Sohn sein, wie sie ihm für sein ganzes Leben Eisen ins Blut geben, seinen Charakter männlich machen kann. Niezsche mußte diesen kräftigen und kräftigenden Einfluß fast ganz entbehren, schon im Sommer 1849 ist sein Vater gestorben; das „Brutale“, wenn er es je gehabt hat, konnte sich nicht in ihm entwickeln; es war daher vielleicht nur die Sehnsucht nach etwas, das ihm ganz besonders fehlte, wenn er sein Lob verkündigte.

Der Vater ist an Gehirnerweichung gestorben, und so liegt es nahe, bei dem Sohn an erbliche Belastung zu denken. Dem tritt Nietzsches Schwester entschieden entgegen, indem sie jenes Gehirnleiden des Vaters auf einen unglücklichen Fall zurückführt und immer wieder an die Gesundheit und Langlebigkeit der Verwandten väterlicher wie mütterlicher Seite erinnert. Uns aber ruft diese vaterlose Jugend Nietzsches, wenn wir sie mit seinem tragischen Ende zusammenhalten, das Schicksal des unglückseligen Hölderlin ins Gedächtnis, der ebenfalls ohne Vater, wie eine Rebe ohne Stab", herangewachsen ist und dann mit seiner überempfindlichen, weichen Natur den Stürmen und Härten des Lebens nicht stand zu halten vermochte, sondern in vierzigjährigem Wahnsinn geendet hat. Niezsche und Hölderlin wir werden die Parallele noch weiter zu ziehen

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