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die Verräther an Grausamkeit selbst das Thier überträfen; in Dante's Darstellung findet sich jedoch nicht der geringste Anlass zu einer solchen Interpretation. Ebenso schwanken die hier ungenannt gebliebenen Commentatoren der älteren und ältesten Zeit in der Auffassung der bestialità: sie kennen alle so ziemlich, was Aristoteles darunter versteht, aber sie scheitern sämmtlich bei der Anwendung auf Dante. Dieser lässt sich darüber mit keinem Worte aus und gestattet den willkürlichsten Erklärungen freien Spielraum. Ich bin überzeugt, nach der Intention des Dichters ist die Eintheilung mit der incontinenza und der malizia und ihren Unterabtheilungen für erschöpft zu erachten; die matta bestialitade schliesst sich dann noch jenen beiden an, der Aristotelischen Dreitheilung zu Liebe, ohne dass sie etwas Besonderes für sich bezeichnen soll, als etwa nur in der Weise, wie Francesco da Buti es auffasst, der incontinenza oder der malizia eine in Einzelfällen mögliche Verstärkung hinzuzufügen. Es wäre das eine ähnliche Inconsequenz in der Aufzählung, wie wenn in vv. 58 60 die zehn Bulgen des achten Kreises aufgeführt werden sollen und statt deren nur acht mit Namen wirklich genannt werden; drängte hier der Reim zur Auslassung, so dort die Autorität des Philosophen zu dem, streng genommen, überflüssigen Zusatze.

Kehren wir weiter einen Augenblick in die Unterabtheilungen des siebenten Kreises ein, welchen die Gewaltthätigen anfüllen, und blicken wir daraus vergleichend in die übrigen Bereiche des Inferno, so stossen bei genauerer Erwägung einige Fragen auf, deren Beantwortung für das Verständniss des Dichters von höchstem Interesse ist. Wir treffen da die Gewaltthätigen gegen den eigenen Besitz, von denen (v. 44) gesagt wird, dass sie ihr Vermögen verspielen und sonst verschwenden, (biscazza e fonde la sua facultade"): wie unterscheiden sich nun diese von den Verschwendern, welche im vierten Höllenkreise den Geizigen entgegenarbeiten? Wie unterscheiden sich ferner die Gewaltthätigen gegen Gott, die ihn im Herzen leugnen und ihn lästern, von jenen glaubenslosen Epikuräern des sechsten Kreises? Den Unterschied wird man vergeblich im Wesen der Sache selbst suchen: dort wie hier haben wir im

Grunde genommen dieselben Leute vor uns, wenn sie sich auch etwas verschieden gebehrden. Der Unterschied liegt nur in der Auffassung. Bei den Verschwendern ist das eine Mal der leitende Gesichtspunkt das Unmass des an sich Erlaubten, das andere Mal die an sich frevelhafte Gewaltthat gegen das von Gott Verliehene; bei den Gottesleugnern handelt es sich in dem einen Falle um Kennzeichnung einer verkehrten, von den Anforderungen der Sinnlichkeit gefesselten Lebensansicht, im anderen um Charakteristik jenes Trotzes, welcher ein höher Waltendes nicht anerkennen mag, es desshalb leugnet oder lästert. Auf ein ähnliches Verfahren mannigfachster Art muss man in allen Theilen der Göttlichen Komödie gefasst sein: die gemeine Verstandes logik sieht sich gar nicht oft genöthigt, den Rücksichten des lebensvollen poetischen Gedankens das Feld zu räumen. Der Dichter hat durchaus nicht die Absicht, ein begrifflich streng in sich zusammenhängendes, in seinen Theilen folgerichtiges Sündensystem aufzustellen: nimmt er im XI. Gesange des Inferno, und später im XVII. des Purgatorio, die Miene dazu an, so ist dies selbst nur eine poetische Maske, die er ohne Weiteres auf seiner Wanderung ablegt, so oft sie ihn in der Freiheit der ihm eigenthümlichen Gedanken - Bewegung hindert. Wie wunderlich, wie gezwungen, erscheint die Einordnung der Wucherer unter die Gewaltthätigen gegen Gottes Eigenthum! So nach gewöhnlicher Logik gemessen; wer jedoch mit freierem Sinne erwägt, der wird bewundern müssen, welche Perle der Dichter von diesem Abwege heimbringt. Die Verstossung der unrecht liebenden Francesca unter die „fleischlichen Sünder, welche die Vernunft dem Triebe unterwerfen", während die Sklaven der ekelhaftesten Versündigung gegen die Natur des Purgatorio gewürdigt werden, beleidigt an und für sich jedes sittliche Gefühl. Freilich hat Francesca nicht, wie diese, vor dem Tode bereut, ja sie zeigt nicht einmal nachher eine Spur von Reue, hält vielmehr mit ewig junger Leidenschaft an dem Geliebten fest. Aber was führte den Dichter dazu, über die Unglückliche, trotz ihres Fehles, allen Zauber jungfräulicher Reinheit zu verbreiten und durch ihr Bild das süsseste Mitge fühl zu erwecken, welches mit keinem Gedanken mehr an ihrer Sünde, sondern nur noch an ihrer Anmuth, ihrer

Berechtigung zur Liebe, ihrem tragischen Geschicke haftet? Er macht sich durch seine Darstellung selbst zum argen Verführer; denn wir Alle verweilen lieber bei der schönen Verdammten, als bei den der Seligkeit entgegeneilenden Sodomitern, ja sogar lieber, als bei der schon seligen Cunizza, die in ihrem irdischen Leben so viel der Liebe gefröhnt. Was wollte nun Dante? Gewiss nicht Francesca als Person verurtheilen, ebensowenig die von ihr begangene Untreue an einem durch Betrug aufgedrungenen hassenswürdigen Gatten nach sittlichem Massstabe niedriger als unnatürliche Wollust stellen, wogegen schon der tiefere Höllenkreis sprechen würde, welchen der Dichter den reuelosen Sündern dieser Gattung anweist: ich glaube, er wollte nichts Anderes, als gerade an dem reizendsten Beispiele um so nachdrucksvoller die Unverbrüchlichkeit des ehelichen Bandes hervorheben, den unheilvollen Gegensatz einer liebelosen Ehe und einer durch das kirchliche und bürgerliche Gesetz verpönten Liebe zur Anschauung bringen. Dabei konnte der edle Charakter der Person im Ganzen ebenso bestehen bleiben, wie das „liebe gute väterliche Antlitz" seines Lehrers Brunetto Latini bei dem hässlichen Laster, um deswillen seine Seele der Qual des Inferno anheimfällt.

Alles beweist, dass der Dichter weder über Personen noch über Sünden nach einem systematischen Lehrcodex zu Gericht sitzen wollte, sondern dass seine vorwaltende Absicht auf die lebensvollste Charakteristik der menschlichen Seelenzustände, ihrer Grundbedingungen und Ergebnisse abzielt. Sogleich beim Eintritt in die Unterwelt werden wir auf diese Tendenz des Gedichtes hingewiesen, indem zu oberst noch ausserhalb des ersten Kreises alle diejenigen schmachten, welche auf Erden ohne Lob und ohne Schande gelebt haben, und von ihnen gesagt wird, dass auch der Höllenschlund sie nicht aufnimmt, weil sonst die Verdammten von der Bedeutungslosigkeit derselben einigen Ruhm für sich gewinnen möchten, was ganz ebenso nur die Indifferenz zwischen Gut und Böse charakterisiren soll, wie die sündelosen Heiden des ersten Kreises, denen nichts als die Taufe zur Beseligung fehlt, und die epikuräischen Gottesleugner des sechsten, die trotz empfan

gener Taufe ihr Heil verscherzen, einestheils die von dem Zeitlaufe vorenthaltene, anderntheils die von weltlichen Bestrebungen vereitelte Gotterkenntniss zu bezeichnen haben. Die beiden Kreise fehlen dann in der systematischen Skizze des XI. Gesanges von dem ersten erscheint es natürlich, da das auf der aristotelisch - ciceronianischen Grundlage erbaute System keine Unzulänglichkeit, sondern die wirklichen Versündigungen umfasste; der zweite aber, mitten zwischen die übrigen hineingestellt, bezieht sich nach der einen Seite hin mehr auf die geistige Folge, zugleich auf weitere Veranlassung von Sünden, als auf solche unmittelbar, nach der andern Seite hin ist der Inhalt desselben, wie oben erwähnt wurde, versteckter Weise in dem einen Bezirke des siebenten Kreises wirklich vertreten. Aber alles dessen bedürfte es gar nicht: unser Dichter ist nicht so pedantisch, wie er aussieht, und lässt sich ganz gern auf einer Inconsequenz ertappen, wenn er durch dieselbe einen höheren Zweck erreichen kann.

Bevor ich das Inferno verlasse, um das Sündensystem des Purgatorio zu untersuchen, will ich noch einen Punkt daraus ans Licht ziehen, den keiner der bisherigen Erklärer, soweit ich sie vom vierzehnten Jahrhundert an bis zur Gegenwart kenne, auch nur der Erwähnung gewürdigt hat. Lucifer zermalmt in jedem seiner drei Rachen einen Verräther der schlimmsten Art, nämlich an vertrauenden Wohlthätern und Lehrern: die zwei rechts und links sind Brutus und Cassius, die Mörder Cäsar's, der mittlere oberhalb Judas Ischariot; dort die Verräther des Weltherrschers, hier der des Weltheilandes. Warum verdoppelte der sonst so ökonomische Dichter in diesem eminenten Falle auf der einen Seite das Beispiel, scheinbar ohne Noth, für dieselbe Sache? Einer von beiden hätte genügt, wenn eben nur der Gegensatz des Verrathes an dem höchsten irdischen und dem göttlichen Wohlthäter ausgedrückt werden sollte? Hätte sich nicht für den dritten Rachen noch irgend ein anderer geeigneter Mann finden lassen? Die drei Rachen sollen ohne Zweifel das Bild einer infernalischen Dreieinigkeit gewähren; ist dies der Fall, dann regt sich auch in dem Betrachter das Bedürfniss nach drei Verräthern von je verschiedener Beziehung. Dante

hat dieses Bedürfniss der logischen Symmetrie unberücksichtigt gelassen; welches höhere Interesse bei ihm trat jenem entgegen? Oder verfuhr er ohne besondere Rücksicht? Gewiss in dem vorliegenden Falle, wo es sich um den prägnanten Abschluss des Inferno handelt, am wenigsten denkbar. Das höhere Interesse aber, welches ihn leitete, war nach meinem Dafürhalten kein anderes, als für die Einzigkeit der verrätherischen That des Judas die einschneidendste Form zu finden. Und diese Absicht scheint mir der Dichter vollkommen erreicht zu haben; denn nur so, als der Eine zwischen den zwei unter sich Gleichen, als die letzte der irdischen Welt entnommene Gestalt, konnte der Verräther den Gipfelpunkt der ewig verdammten Genossenschaft bilden. Der Formation des Höllentrichters, wie der psychologisch begründeten Steigerung des Bösen gemäss hat dieses immer weniger Vertreter, je verdammlicher es wird, bis es am Ende nur noch den Einen ohne Gleichen aufweist. Hierin liegt, meine ich, der Schlüssel zur Lösung des Räthsels, warum der Dichter bei der Ausstattung der drei Rachen Lucifers nach der Formel a+b+a, und nicht nach der eher zu erwartenden a+b+c, verfahren ist.

Damit verlasse ich zunächst das Inferno und wende mich zum Purgatorio. Dass wir uns hier auf ausschliesslich christlichem Boden befinden, darauf weist von vornherein die Verwendung von kirchlich-symbolischen Beziehungen hin; um so wohlthuender berührt der Kontrast, den die beiden römischen Heiden, Cato von Utica als Hüter des Zugangs zum Reinigungsberge, und Virgil selbst, der Führer Dante's, hinzubringen. Der letztere leitet seinen Schützling nicht bloss noch weiter bis hinauf ins irdische Paradies, sondern er ist es auch, der demselben, wie im Inferno, die Lehre von dem Ursprunge und den Arten der Sünde vorträgt, und hier im specifisch christlichen Sinne. Der Dichter hatte also, wie die ganze Menschheit es gehabt, das Bedürfniss einer allgemeinen menschlichen Unterlage für das Christliche, gewissermassen eines heidnischen Organes für den christlichen Geist, soweit dieser sich im Gebiete des Sittlichen bewegt. Das System, welches im XVII. Gesange entwickelt wird, unterscheidet sich von dem des Inferno durch

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