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Postulat als Gegenwart. Das Richtige findet sich zwar oft, aber dann immer in der Form des Unmittelbaren, des Zufälligen. Dieser Zug des Indischen Geistes ist nicht nur der der Wissenschaft, sondern er durchdringt eben so sehr die Institutionen und das Leben des Volkes. Daher im Conflicte des Daseins die heroischscheinende Selbstvernichtung, daher auf dem Gebiete der Religion die vollendete Ausbildung einer Askese, die nicht geringe Analogieen mit der Praris des Katholicismus hat, da= her der gänzliche Mangel an volksthümlicher Geschichte, denn die Thaten der Vorzeit werden ihrer Träger be= raubt und diese in den Nebel der Mythe gehüllt. Ebenso haben wir es in der Philosophie auch nur mit Systemen und Schulen, nicht aber mit Individuen zu thun, und es wird dadurch leichter, von dem Geiste der indischen Philosophieen im Allgemeinen zu sprechen, als es von dem der Philosophieen des Occidents der Fall sein kann, mochten jene sich auch über ein Land erstrecken, das einem Erdtheile fast an Ausdehnung gleicht, und mochte ihr Einfluß auf das Leben auch unmittelbarer sein, als es bei uns und unseren concreten Zwecken der Fall ist.

Indien hatte das Glück oder, wenn man will, das Unglück, eine geoffenbarte Religion zu befizen. Sie war ihm von heiligen Männern überliefert worden, die fte aus dem Munde der Gottheit „gehört“ hatten, und die Veden, das Document dieser Religion, find die GrundLage der brahmanischen Institutionen und der brahmani

nischen Geistesbildung geworden. Die Veden sind nun dem Inder das Allgemeine das nicht zu Rüttelnde, Feste, Ewige. Die Intelligenz des Individuums ist nur berechtigt, in so fern sie mit den Veden und mit den Lehren, die unmittelbar daraus fließen, übereinstimmt. Gesezbücher, so heilig ihr Ursprung auch sei, Gebräucheder Vorfahren, wie ehrwürdig auch ihre Autorität, kön nen nur „verbindende Kraft" haben, in so fern sie entwikfeln und ausführen, was virtuell schon in den Veden. enthalten ist.

Confequenter Weise käme es bei dieser Ruhe der Gedanken zu keiner Philosophie in Indien. Aber das Heilige Buch ward im Laufe der Zeit für dunkel und mit sich selbst im Widerspruche befunden. Es bildeten fich also Schulen, welche es interpretirten, mit sich selbst in Einklang zu sehen versuchten; und weil das sich Aeußerliche sein Band nur durch das Allgemeine haben fann mag dieses selbst ein künstlich Hervorgebrachtes oder aus dem Begriff des Objectes selbst Entwickeltes fein weil nicht minder der Widerspruch nur im Begriffe seine Lösung findet, so kam es dadurch zur Bil dung von Begriffen, zu einer Art von Dialektik und Logik. Beide aber, Dialektik und Logik, sind, wie sich aus dem Gesagten ergibt, formalen Ursprungs gewesen und weil sie ihm nicht untreu wurden, auch formaler Natur geblieben. Sie haben jedesmal ihren Zweck - erreicht, wenn sie die bestimmte Vedenstelle zur Zufriedenheit hergestellt. Das Denken hatte sein festes, unüber

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windliches Object, das ihm als Allgemeines galt war mit Einem Worte scholaftisches Denken. Freilich bedarf dieses Urtheil noch einer wesentlichen BeschränEung. Auch in Indien hatte die Orthodorie der Philosophieen ihre Grenze; fie durften sich frei aus dem Geift heraus, ohne den Druck äußerer Verhältnisse, entwikkeln, und es ist nicht bekannt, daß fte sich weltlichen Zwecken zu accommodiren hatten. Daher schlugen ste allmälig in ihr Gegentheil um, bis der Buddhismus die Befreiung von einer, durch die Brahmanen aufgedrungenen, von der Ueberzeugung aber zurückgewiesenen Reli gion vollendete. In diesem Stadium gewann die Philosophie nothwendig an concretem Inhalte. Je mehr aber dieser zunahm, desto weniger fand auch das Bedürfniß nach dem Formalen Nahrung, so daß zulezt diejenigen Philosophieen, welche sich von der ursprünglichen Autorität am meisten entfernt hatten, auch das formale Ele= ment der Logik und Dialektik fast gänzlich vernachläfsigten.

Näher bezeichnet verhält sich nun die Logik in den einzelnen Philosophien folgendermaßen: die Mimansa ist die orthodorefte. Die Dialektik behauptet darum bei ihrer streng scholastischen Richtung eine wesentliche Stelle, und einer ihrer berühmtesten Fortbildner, Madhava (der= selbe, dem wir die großen Commentare der Veden danken) hat sich ihrer oft mit seltenem Geschick bedient, um das heilige Buch von dem Vorwurfe der Absurdität oder des innern Widerspruchs zu retten.

nach unedirten

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In dem Vedanta, dem theologisch metaphysischen Theil der Mimansa, dem also mit selbstständigerem Inhalte erfüllten, tritt das dialektisch - logische Element zurück. Im Nyâya und seiner Fortseßung, dem Vaiçeschikasystem, ist das formal logische Element am weitesten gediehen; aber der nur religiöse Zweck, welcher die Mimansa durchdringt, waltet nicht mehr in ihm vor. Es zeigt sich in diesem Systeme bereits die Freude am Spiel mit den Begriffen und das Spiel wird alsbald eine Sophistik, die eben so wenig der Entwickelung Indiens fremd bleiben konnte, als sie nicht auch der Durchgangspunct für jedes Individuum und für jedes andere Volk sein muß. Im Sankhya- und Vogasystem hat wiederum der Reichthum an metaphysischem Stoffe das formale Element zurückgedrängt und vom Buddhismus ist bis jezt nichts zugänglich geworden, was das Vorhandensein des Lezteren vorausseßen ließe.

Was nun die Dialektik der Mimansa anlangt, so werden ihre Theile von Madhava in seinem (noch unedirten) Werke Jaiminîya-nyâya-mâla-vistru in følgen= der Weise angegeben: ein Paragraph (Adhikarana) muß enthalten 1) die Angabe des Gegenstandes, 2) den Zweifel, 3) die erste Seite des Gegenstandes, 4) die andere Seite desselben und zwar die wahre. Angabe des Ge= genstandes und des Zweifels fallen gewöhnlich zusam= men. Der lettere besteht in dem Feststellen des negativen und des positiven Momentes, in deren einem die Wahrheit des Gegenstandes enthalten sein muß. Darauf folgt

die Behauptung und Vertheidigung der Negation und die Discussion schließt mit der Negation dieser Negation und dem positiven Resultate.

An fich ist dieser Gang der Entwickelung vollkommen speculativ, aber das Band, welches die einzelnen Theile der= selben verbindet, ist dem Gegenstand äußerlich, durch die Reflerion des Philosophen an denselben willkürlich ange= legt und nicht durch die Natur dieses selbst bedingt. Der Reichthum metaphysischer Bestimmungen über Substanz und Accidenz, Mittel und Zweck, Unendliches und Endliches und viele andere Begriffe wird nur entfalter, um die verknöcherte Materie zu beleben, sie als Einzelnes unter das Allgemeine zu bringen und damit selbst zum Allgemeinen zu machen.

Von den Definitionen der einzelnen Begriffe heben wir in der Mimansa mit Bezug auf die formale Logik die des Allgemeinen und Einzelnen hervor. Jenes ist die Gattung, das Unendliche, Unbedingte, auch in fich Einige: dieses ist das Specielle, Endliche, Willkürliche und Bedingte. Den nothwendigen Grund dieser Auffassung haben wir im Allgemeinen früher erörtert.

Im Nyaya sind diese Bestimmungen genauer und nicht mehr mit dem Scheine von Zufälligkeit behandelt, in welchem sie hie und da, nur gelegentlich, bei Madhava vorkommen.

In der Nyåjå-sûtra-vritti wird das Verhältniß des Einzelnen, Besondern und Allgemeinen unter der Benennung von Species (vyakti), Form (âkriti), und

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