Page images
PDF
EPUB

5.

MORGENGEBET.

O wunderbares, tiefes Schweigen,
Wie einsam ist's noch auf der Welt!
Die Wälder nur sich leise neigen,
Als ging' der Herr durchs stille Feld.

Ich fühl' mich recht wie neu geschaffen,
Wo ist die Sorge nun und Noth?
Was mich noch gestern wollt' erschlaffen,
Ich schäm' mich dess im Morgenroth.

Die Welt mit ihrem Gram und Glücke
Will ich, ein Pilger, frohbereit
Betreten nur wie eine Brücke

Zu dir, Herr, übern Strom der Zeit.

Und buhlt mein Lied, auf Weltgunst lauernd,
Um schnöden Sold der Eitelkeit:

Zerschlag' mein Saitenspiel, und schauernd
Schweig' ich vor dir in Ewigkeit.

WILHELM MÜLLER.

[Scherer D. 655 E. II. 271.]

ΤΟ

20

Geboren 1794 zu Dessau, studierte 1812 Philologie und Geschichte in Berlin, machte 1813, 1814 die Freiheitskriege mit und setzte nach dem Kriege seine Studien in Berlin fort. 1817 bis Anfang 1819 verweilte er in Italien; nach seiner Rückkehr wurde er bald an das Gymnasium seiner Vaterstadt als Lehrer der classischen Sprachen berufen und erhielt hier auch kurz darauf die Stelle eines Bibliothekars an der neu gegründeten herzoglichen Bibliothek. Er starb 1827. Als lyrischer Dichter machte er sich durch die 'Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten' 1821-27 und während des griechischen Freiheitskampfes durch die 'Lieder der Griechen' 1821-24 in weiten Kreisen bekannt. Ihnen folgten Lyrische 30 Spaziergänge' 1827. Besonders beliebt wurden die 'Müller-' und die Wanderlieder'. Eine neue Ausgabe seiner Gedichte erschien eingeleitet von seinem Sohne Max Müller, 2 Thle (Leipzig 1868). Vermischte Schriften' gab Schwab heraus, 5 Bde. (Leipzig 1830.)

[ocr errors]
[blocks in formation]

Die Räder führen!

Könnt' ich wehen

Durch alle Haine!

Könnt' ich drehen

Alle Steine!

Dass die schöne Müllerin

Merkte meinen treuen Sinn!

Ach, wie ist mein Arm so schwach!

Was ich hebe, was ich trage,
Was ich schneide, was ich schlage,
Jeder Knappe thut es nach.

Und da sitz' ich in der grossen Runde,
Zu der stillen kühlen Feierstunde,

Und der Meister spricht zu allen:
Euer Werk hat mir gefallen;

Und das liebe Mädchen sagt

Allen eine Gute Nacht.

3.

DAS WIRTHSHAUS.

Auf einen Todtenacker

Hat mich mein Weg gebracht.

Allhier will ich einkehren,

Hab' ich bei mir gedacht.
Ihr grünen Todtenkränze
Könnt wol die Zeichen sein,
Die müde Wandrer laden
Ins kühle Wirthshaus ein.

Sind denn in diesem Hause
Die Kammern all besetzt?
Bin matt zum Niedersinken
Und tödlich schwer verletzt.
O unbarmherz'ge Schenke,
Doch weisest du mich ab?
Nun weiter denn, nur weiter
Mein treuer Wanderstab!

10

20

30

4.

MORGENLIED.

Wer schlägt so rasch an die Fenster mir
Mit schwanken grünen Zweigen?

Der junge Morgenwind ist hier
Und will sich lustig zeigen.

'Heraus, heraus, du Menschensohn!'

So ruft der kecke Geselle

'Es schwärmt von Frühlingswonnen schon

Vor deiner Kammerschwelle.

'Hörst du die Käfer summen nicht?
Hörst du das Glas nicht klirren,
Wenn sie, betäubt von Duft und Licht,
Hart an die Scheiben schwirren?

'Die Sonnenstrahlen stehlen sich

Behende durch Blätter und Ranken

Und necken auf deinem Lager dich

Mit blendendem Schweben und Schwanken.

'Die Nachtigall ist heiser fast,

Solang' hat sie gesungen,

Und weil du sie gehört nicht hast,

Ist sie vom Baum gesprungen.

'Da schlug ich mit dem leeren Zweig
An deine Fensterscheiben:

Heraus, heraus in das Frühlingsreich!
Es wird nicht lange mehr bleiben.'

5.

VINETA.

Aus des Meeres tiefem, tiefem Grunde
Klingen Abendglocken dumpf und matt,
Uns zu geben wunderbare Kunde

Von der schönen, alten Wunderstadt.

10

20

30

In der Fluten Schos hinabgesunken
Blieben unten ihre Trümmer stehn;
Ihre Zinnen lassen goldne Funken
Widerscheinend auf dem Spiegel sehn.

Und der Schiffer, der den Zauberschimmer
Einmal sah im hellen Abendroth,
Nach derselben Stelle schifft er immer,
Ob auch ringsumher die Klippe droht.

Aus des Herzens tiefem, tiefem Grunde

Klingt es mir wie Glocken, dumpf und matt ;
Ach, sie geben wunderbare Kunde

Von der Liebe, die geliebt es hat.

Eine schöne Welt ist da versunken,
Ihre Trümmer blieben unten stehn,
Lassen sich als goldne Himmelsfunken
Oft im Spiegel meiner Träume sehn.

Und dann möcht' ich tauchen in die Tiefen

Mich versenken in den Widerschein,

Und mir ist, als ob mich Engel riefen

In die alte Wunderstadt herein.

6.

DER GREIS AUF HYDRA.

Ich stand auf hohem Felsen, tief unter mir die Flut:
Da schwang sich meine Seele empor in freiem Muth.
Ich liess die Blicke schweifen weit über Land und Meer:
So weit, so weit sie reichen, klirrt keine Kette mehr,
So weit, so weit sie reichen, kein halber Mond zu seh'n,
Auf Bergen, Thürmen, Masten, die heil'gen Kreuze weh'n.
So weit, so weit sie reichen, es hebt sich jede Brust
In eines Glaubens Flamme, in einer Lieb' und Lust.
Und alles was uns fesselt, und alles was uns drückt,
Was einen nur bekümmert, was einen nur entzückt,
Wir werfens in das Feuer, wir senkens in die Flut,

ΤΟ

20

30

« PreviousContinue »