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'Diese Kornähre ist krank, diess Holz gesund. Diess wird gedeyhn, jenes nicht,' sagt er auf den ersten oder zweyten Blick; sagt bisweilen wie schön diese Weinrebe scheine-sie wird wenig Trauben bringen '-Warum? Er bemerkt, wie der Physiognomist am schönen leeren Menschengesicht,-Leerheit des Triebes-Und wie? Abermal an irgend einer Aeusserlichkeit ?

Der Arzt, sieht er oft nicht mehr aus der Physiognomie des Kranken, als aus allen Nachrichten, die man ihm von seinem Patienten bringt? Wie erstaunlich weit es hierinn gewisse Aerzte bringenkann Zimmermann unter manchen lebenden, und unter vielen 10 verstorbnen Kämpf, dessen Sohn von den Temperamenten geschrieben hat, Beyspiel seyn.

Der Mahler. Doch von dem will ich nicht reden, die Sache redet, redet allzubeschämend für den bey manchem eben so kindischen als stolzen Eigensinn der angeblichen Ungläubigen an die Physiognomie.

Der Reisende, der Menschenfreund, der Menschenfeind, der Verliebte-und wer nicht? Alle handeln nach ihrem wahren oder falschen, klaren oder konfusen physiognomischen Urtheil und Gefühle. Diess Urtheil, diess Gefühl erweckt Mitleiden oder Scha- 20 denfreude, Liebe oder Hass, Misstrauen oder Zuversicht, Zurückhaltung, oder Offenherzigkeit.

Und wird der Himmel nicht täglich nach seiner Physiognomie beurtheilt?

Keine Speise, kein Glas Wein oder Bier, keine Schale Koffee oder Thee kömmt auf unsern Tisch, von deren Physiognomie, deren Aeusserlichkeit, wir nicht sogleich auf ihre innere Güte oder Schlechtigkeit einen Schluss machen.

Man bringt uns ein Körbgen mit Birnen oder Aepfeln; warum suchen wir aus? Warum wählen wir die einen, und lassen die an- 30 dern liegen? Warum ruft uns, wenn wir aus Bescheidenheit ein schlechteres Stück wählen, die gefällige Höflichkeit zu: 'Lassen Sie dieses liegen! Nehmen Sie das bessere!'-Warum? Um der Physiognomie willen!

Ist nicht die ganze Natur Physiognomie? Oberfläche und Innhalt? Leib und Geist? Aeussere Wirkung und innere Kraft? Unsichtbarer Anfang; sichtbare Endung?

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Welche Kenntniss, die der Mensch immer besitzen mag, gründet sich nicht auf Aeusserlichkeit, auf Character, auf Verhältniss des Sichtbaren zum Unsichtbaren, des Wahrnehmlichen zum Unwahrnehmlichen?—

Die Physiognomik in weiterm und engerm Verstande ist die Seele aller menschlichen Urtheile, Bestrebungen, Handlungen, Erwartungen, Furchten, Hoffnungen, aller angenehmen und unangenehmen Empfindungen, welche durch Dinge ausser uns veranlasset werden.

Von der Wiege an bis zum Grabe, in allen Ständen und Altern, 10 bey allen Nationen, von Adam an bis auf den letzten, der sterben wird, vom Wurm an, den wir zertreten, bis auf den erhabensten Weisen, und warum nicht bis auf den Engel? warum nicht bis auf Jesum Christum ?-ist die Physiognomie der Grund von allem, was wir thun und lassen.

Jedes Insekt kennt seinen Freund und seinen Feind ; jedes Kind liebet oder fürchtet, ohne zu wissen warum, durch die Physiognomik; und es lebt auf dem Erdboden kein Mensch, der sich nicht täglich durch die Physiognomie leiten lässt; kein Mensch, dem sich nicht ein Gesicht vorzeichnen liesse, das ihm entweder äusserst 20 liebenswürdig, oder äusserst abscheulich vorkommen müsste; kein Mensch, der nicht jeden Menschen, der das erstemal zu ihm kommt, mehr oder minder anschaut, misst, vergleicht, und physiognomisch beurtheilt, wenn er auch das Wort Physiognomie in seinem Leben nie gehöret hat; kein Mensch, der nicht alle Sachen, die ihm durch die Hände gehen, physiognomisch, das ist, den innern Werth der selben nach ihrem Aeusserlichen beurtheilt.

Selbst die so sehr der Physiognomik entgegengeworfne Verstellungskunst gründet sich bloss auf die Physiognomik. Warum ahmt der Heuchler dem Redlichen nach? Als weil er, und, wenn's noch 30 so leise, noch so wenig herausgedacht wäre, weil er denkt, aller Augen bemerken den Character der Redlichkeit ?-

Welcher Richter-von Verstand und Unverstand-er mag's sagen oder nicht, dawider protestiren oder nicht,-richtet in diesem Sinne nie nach dem Ansehen der Person? Welcher kann, darf, soll ganz gleichgültig seyn, in Ansehung des Aeusserlichen der Personen, die ihm vorgestellt werden?-Welcher Regent erwählt einen Minister,

ohne auf sein Aeusserliches mit ein Auge zu werfen, und ihn darnach, wenigstens zum Theil, wenigstens bey sich selbst zu beurtheilen? Der Officier wählt keinen Soldaten, ohn' auf sein Aeusserliches die Länge nicht gerechnet, mit zu sehen. Welcher Hausvater wählt einen Bedienten, welche Frau eine Magd, dass ihr Aeusserliches, dass ihre Gesichtsbildung, sie mögen richtig oder unrichtig urtheilen, mögen sichs bewusst oder unbewusst seyn,— bey der Wahl nicht mit in Anschlag komme?

Blos das flüchtige Andenken an die unzähligen vor Augen liegenden Beyspiele, die das allgemeine stillschweigende Eingeständniss 10 aller Menschen, dass sie ganz von der Physiognomie geleitet werden, unwidersprechlich bestätigen, ermüdet mich, und Widerwillen ergreift mich, dass ich, um Gelehrte von Wahrheiten zu überzeugen, Dinge schreiben muss, die jedes Kind weiss, oder wissen kann.

Wer Augen hat zu sehen, der sehe, wen aber das Licht, nahe vors Gesicht gehalten, toll macht, der mag mit der Faust drein schlagen, und sich die Finger dran verbrennen. Ich rede nicht gern diese Sprache; aber ich darf, ich muss dreiste reden, weil ich dessen, was ich sage und sagen werde, gewiss bin, und weil ich im Stande 20 zu seyn glaube, mich der Ueberzeugung aller redlichen und aufmerksamen Freunde der Wahrheit durch Gründe, die schwerlich zu widerlegen seyn dürften, bemächtigen zu können, und weil ich es nicht für unwichtig halte, den muthwilligen Kitzel einiger grossen Tongeber zur bescheidenen Zurückhaltung ihrer despotischen Urtheile herabzustimmen. Es bleibt also dabey, nicht deswegen, weil ich es sage, sondern, weil's auffallend wahr ist-weil's wahr seyn würde, wenn's nicht gesagt würde-Es bleibt also dabey, dass die Physiognomie alle Menschen, sie mögen's wissen, oder nicht, täglich leitet dass, wie Sulzer sagt, jeder Mensch, er mag's wissen, 30 oder nicht, etwas von der Physiognomik versteht; dass nicht ein lebendiges Wesen ist, welches nicht aus dem Aeusserlichen auf das Innere, wenigstens nach seiner Art, Schlüsse macht, nicht von dem, was in die Sinne fällt, das beurtheilt, was an sich nicht in die Sinne fallen kann.

Diese Allgemeintheit des, wenigstens stillschweigenden, Eingeständnisses, dass das Aeussere, das Sichtbare, die Oberfläche der

Sache das Innere, die Eigenschaft desselben anzeige; dass alles Aeussere Ausdruck von der Beschaffenheit des Inwendigen sey, ist, deucht mich, in Absicht auf die menschliche Physiognomie von der äussersten Wichtigkeit und einer entscheidenden Klarheit.

Wenn jede Birne, muss ich wieder sagen, wenn jeder Apfel eine eigenthümliche Physiognomie hat, sollte der Herr der Erde keine haben? Das Allereinfachste und Lebloseste hat sein characteristisches Aeusserliches, wodurch es sich von allem, selbst von allem Seines gleichen, unterscheidet-und das schönste, edelste, zusammengesetzteste, belebteste soll keine haben ?—

ΙΟ

Was man also auch immer und immer, von berühmten Akademien an bis zum blödsichtigsten Pöbel herunter, wider die innere Zuverlässigkeit und Wahrheit der Menschenphysiognomie sagen mag, und sagen wird, so sehr man auch immer auf jeden, der sich merken lässt, dass er an die Allbedeutsamkeit des menschlichen Körpers glaube, mit dem beleidigenden Blicke des philosophischen Stolzes oder Mitleidens herablächeln mag; so ist und bleibt dennoch auch in dieser Absicht keine interressantere, nähere, beobachtungswürdigere Sache, als der Mensch, und es kann überhaupt kein interessanteres Werk geben, als eines, das dem Menschen die 20 Schönheiten und Vollkommenheiten der menschlichen Natur aufdeckt.

2.

CHRISTUS MUSS WACHSEN.

O Jesus Christus, wachs' in mir!
Und alles andre schwinde!

Mein Herz sey täglich näher dir,

Und ferner von der Sünde !

Lass täglich deine Huld und Macht
Um meine Schwachheit schweben!
Dein Licht verschlinge meine Nacht,
Und meinen Tod dein Leben!

Beim Sonnenstrale deines Lichts
Lass jeden Wahn verschwinden!

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Dein Alles, Christus, und mein Nichts
Lass täglich mich empfinden!

Sey nahe mir, werf ich mich hin,
Wein' ich vor dir im Stillen!
Dein reiner gottgelassner Sinn
Behersche meinen Willen!

Blick' immer herrlicher aus mir,
Voll Weisheit Huld und Freude!
Ich sey ein lebend Bild von dir,
Im Glück, und wenn ich leide!

Mach' alles in mir froh und gut,
Dass stäts ich minder fehle!
Herr, deiner Menschenliebe Glut
Durchglühe meine Seele!

Es weiche Stolz, und Trägheit weich',
Und jeder Leichtsinn fliehe,

Wenn, Herr, nach dir und deinem Reich
Ich redlich mich bemühe!

Mein eignes eitles leeres Ich

Sey jeden Tag geringer!

O würd' ich jeden Tag durch dich

Dein würdigerer Jünger!

Von dir erfüllter jeden Tag,

Und jeden von mir leerer!
O du, der über Flehn vermag,

Sey meines Flehns Erhörer !

Der Glaub' an dich und deine Kraft

Sey Trieb von jedem Triebe!

Sey du nur meine Leidenschaft,

Du meine Freud' und Liebe!

JOHANN HEINRICH JUNG-STILLING.

[Scherer D. 512, E. II. 126.]

Geboren 1740 im Nassauischen, war Schneiderlehrling, studierte dann in Strassburg Medicin, wo er mit Goethe in Verkehr trat. Erst Arzt, dann

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