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mit deren historischen Wahrheit, wenn man will, es so misslich aussieht, gleichwohl auf nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen, von unsrer Natur, von unsern Verhältnissen zu Gott, geleitet werden können, auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre?

§ 78. Es ist nicht wahr, dass Speculationen über diese Dinge jemals Unheil gestiftet, und der bürgerlichen Gesellschaft nachtheilig geworden.-Nicht den Speculationen: dem Unsinne, der Tyranney, diesen Speculationen zu steuern; Menschen, die ihre eigenen hatten, nicht ihre eigenen zu gönnen, ist dieser Vorwurf 10 zu machen.

§ 79. Vielmehr sind dergleichen Speculationen mögen sie im Einzeln doch ausfallen, wie sie wollen-unstreitig die schicklichsten Uebungen des menschlichen Verstandes überhaupt, so lange das menschliche Herz überhaupt höchstens nur vermögend ist, die Tugend wegen ihrer ewigen glückseligen Folgen zu lieben.

§ 80. Denn bey dieser Eigennützigkeit des menschlichen Herzens, auch den Verstand nur allein an dem üben wollen, was unsere körperlichen Bedürfnisse betrift, würde ihn mehr stumpfen, als wetzen heissen. Er will schlechterdings an geistigen Gegenständen 20 geübt seyn, wenn er zu seiner völligen Aufklärung gelangen, und diejenige Reinigkeit des Herzens hervorbringen soll, die uns, die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben, fähig macht.

§ 81. Oder soll das menschliche Geschlecht auf diese höchste Stufe der Aufklärung und Reinigkeit nie kommen? Nie?

§ 82. Nie?—Lass mich diese Lästerung nicht denken, Allgütiger! -Die Erziehung hat ihr Ziel: bey dem Geschlechte nicht weniger als bey dem Einzeln. Was erzogen wird, wird zu Etwas erzogen.

§ 83. Die schmeichelnden Aussichten, die man dem Jünglinge eröfnet; die Ehre, der Wohlstand, die man ihm vorspiegelt: was 30 sind sie mehr, als Mittel, ihn zum Manne zu erziehen, der auch dann, wenn diese Aussichten der Ehre und des Wohlstandes wegfallen, seine Pflicht zu thun vermögend sey.

§ 84. Darauf zweckte die menschliche Erziehung ab und die göttliche reichte dahin nicht? Was der Kunst mit dem Einzeln gelingt, sollte der Natur nicht auch mit dem Ganzen gelingen? Lästerung! Lästerung!

§ 85. Nein; sie wird kommen, sie wird gewiss kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen, nicht nöthig haben wird; da er das Gute thun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkührliche Belohnungen darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem blos heften und stärken sollten, die innern bessern Belohnungen desselben zu erkennen.

§ 86. Sie wird gewiss kommen, die Zeit eines neuen ewigen Evangeliums, die uns selbst in den Elementarbüchern des Neuen 10 Bundes versprochen wird.

§ 87. Vielleicht, dass selbst gewisse Schwärmer des dreyzehnten und vierzehnten Jahrhunderts einen Strahl dieses neuen ewigen Evangeliums aufgefangen hatten; und nur darinn irrten, dass sie den Ausbruch desselben so nahe verkündigten.

§ 88. Vielleicht war ihr dreyfaches Alter der Welt keine so leere Grille; und gewiss hatten sie keine schlimme Absichten, wenn sie lehrten, dass der Neue Bund eben so wohl antiquiret werden müsse, als es der Alte geworden. Es blieb auch bey ihnen immer die nehmliche Oekonomie des nehmlichen Gottes. Immer 20 -sie meine Sprache sprechen zu lassen-der nehmliche Plan der allgemeinen Erziehung des Menschengeschlechts.

§ 89. Nur dass sie ihn übereilten; nur dass sie ihre Zeitgenossen, die noch kaum der Kindheit entwachsen waren, ohne Aufklärung, ohne Vorbereitung, mit Eins zu Männern machen zu können glaubten, die ihres dritten Zeitalters würdig wären.

§ 90. Und eben das machte sie zu Schwärmern. Der Schwärmer thut oft sehr richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft nur nicht erwarten. Er wünscht diese Zukunft beschleuniget; und wünscht, dass sie durch ihn beschleuniget werde. Wozu sich 30 die Natur Jahrtausende Zeit nimmt, soll in dem Augenblicke seines Daseyns reifen. Denn was hat er davon, wenn das, was er für das Bessere erkennt, nicht noch bey seinen Lebzeiten das Bessere wird? Kömmt er wieder? Glaubt er wieder zu kommen?-Sonderbar, dass diese Schwärmerey allein unter den Schwärmern nicht mehr Mode werden will!

§ 91. Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur

lass mich dieser Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln.— Lass mich an dir nicht verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten, zurück zu gehen!-Es ist nicht wahr, dass die kürzeste Linie immer die gerade ist.

§ 92. Du hast auf deinem ewigen Wege so viel mitzunehmen! so viel Seitenschritte zu thun!-Und wie? wenn es nun gar so gut als ausgemacht wäre, dass das grosse langsame Rad, welches das Geschlecht seiner Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere schnellere Räder in Bewegung gesetzt würde, deren jedes sein Einzelnes eben dahin liefert ?

§ 93 Nicht anders! Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muss jeder einzelne Mensch (der früher, der später) erst durchlaufen haben.'In einem und eben demselben Leben durchlaufen haben? Kann er in eben demselben Leben ein sinnlicher Jude und ein geistiger Christ gewesen seyn? Kann er in eben demselben Leben beyde überhohlet haben?'

Aber

§ 94. Das wohl nun nicht!Aber warum könnte jeder einzelne Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen seyn ?

§ 95. Ist diese Hypothese darum so lächerlich, weil sie die älteste ist? weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterey der Schule zerstreut und geschwächt hatte, sogleich darauf verfiel?

§ 96. Warum könnte auch Ich nicht hier bereits einmal alle die Schritte zu meiner Vervollkommnung gethan haben, welche blos zeitliche Strafen und Belohnungen den Menschen bringen können?

§ 97. Und warum nicht ein andermal alle die, welche zu thun, uns die Aussichten in ewige Belohnungen, so machtig helfen?

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§ 98. Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? 30 Bringe ich auf Einmal so viel weg, dass es der Mühe wieder zu kommen etwa nicht lohnet?

§ 99. Darum nicht?-Oder, weil ich es vergesse, dass ich schon da gewesen? Wohl mir, dass ich das vergesse. Die Erinnerung meiner vorigen Zustände, würde mir nur einen schlechten Gebrauch des gegenwärtigen zu machen erlauben. Und was ich auf itzt vergessen muss, habe ich denn das auf ewig vergessen?

§ 100. Oder, weil so zu viel Zeit für mich verloren gehen würde? -Verloren ?-Und was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?

JOHANN JOACHIM WINCKELMANN.

[Scherer D. 451, E. II 62 .]

Geboren 1717 zu Stendal in der Altmark, als Sohn eines Schuhmachers, wurde vom Rector seiner Schule unterstüzt und 1735 auf das Gymnasium nach Berlin geschickt. 1738 gieng er nach Halle, um Theologie zu studieren, beschäftigte sich aber mehr mit Literatur und Kunst und suchte sich als Hauslehrer zu erhalten. 1743 wurde er Conrector an der Schule zu Seehausen; 1748 Bibliothekar des Grafen von Bünau in Dresden, mit 80 Thalern Gehalt. 1754 trat er zur römischen Kirche über und wurde zur Belohnung dafür vom päbstlichen Nuntius in Dresden nach Italien geschickt. Hier widmete er sich ganz dem Studium der Kunst, wurde Antiquario della Camera Apostolica und schrieb seine Werke über Kunstgeschichte. Auf einer Reise nach Deutschland wurde er 1768 in Triest ermordet. Sein Hauptwerk war seine Geschichte der Kunst des Alterthums', Dresden, 1764, neu herausg. von Lessing, 2 Aufl. (Heidelberg 1882). Die letzte Gesammtausgabe seiner Werke erschien Dresden und Leipzig, 1838 f.

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I.

ERINNERUNG UEBER DIE BETRACHTUNG DER WERKE DER

KUNST.

Willst du über die Werke der Kunst urtheilen, so siehe anfänglich hin über das, was sich durch Fleiss und Arbeit anpreist, und sei aufmerksam auf das, was der Verstand hervorgebracht hat, denn der Fleiss kann sich ohne Talent zeigen, und dieses erblickt 10 man auch, wo der Fleiss fehlt. Ein sehr mühsam gemachtes Bild vom Maler oder Bildhauer ist, blos als dieses, mit einem mühsam gearbeiteten Buche zu vergleichen. Denn, wie gelehrt zu schreiben nicht die grösste Kunst ist, so ist ein sehr fein und glatt ausgepinseltes Bild allein kein Beweis von einem grossen Künstler. Was die ohne Noth gehäuften Stellen vielmals nie gelesener Bücher in einer Schrift sind, das ist in einem Bilde die Andeutung aller Kleinigkeiten. Diese Betrachtung wird dich nicht erstaunen machen über die Lorbeerblätter an dem Apollo und der Daphne von Bernini, noch über das Netz an einer Statue in Deutschland vom ältern 20 Adam aus Paris. Eben so sind keine Kennzeichen, an welchen der

Fleiss allein Antheil hat, fähig zur Kenntniss oder zum Unterschiede des Alten vom Neuen. Gib Achtung, ob der Meister des Werks, welches Du betrachtest, selbst gedacht oder nur nachgemacht hat; ob er die vornehmste Absicht der Kunst, die Schönheit, gekannt oder nach den ihm gewöhnlichen Formen gebildet; und ob er als ein Mann gearbeitet, oder als ein Kind gespielt hat. Es können Bücher und Werke der Kunst gemacht werden, ohne viel zu denken; ich schliesse von dem, was wirklich ist; ein Maler kann auf diese mechanische Art eine Madonna bilden, die sich sehen lässt, und ein Professor sogar eine Metaphysik schreiben, die 10 tausend jungen Leuten gefällt. Die Fähigkeit des Künstlers zu denken aber kann sich nur in oft wiederholten Vorstellungen, sowie in eigenen Erfindungen, zeigen. Denn so wie ein einziger Zug die Bildung des Gesichts verändert, so kann die Andeutung eines einzigen Gedankens, welcher sich in der Richtung eines Gliedes äussert, dem Vorwurfe eine andere Gestalt geben und die Würdigkeit des Künstlers darthun. Plato in Raphaels Schule von Athen rührt nur den Finger, und er sagt genug; und Figuren von Zuccari sagen wenig mit allen ihren verdrehten Wendungen. Denn wie es schwerer ist, viel mit wenigem anzuzeigen, als es das Gegen- 20 theil ist, und der richtige Verstand mit wenigem mehr als mit vielem zu wirken liebt; so wird eine einzelne Figur der Schauplatz aller Kunst eines Meisters sein können. Aber es würde den mehrsten Künstlern ein eben so hartes Gebot sein, eine Begebenheit in einer einzigen oder in ein paar Figuren, und dieses in gross gezeichnet, vorzustellen, als es einem Skribenten sein würde, zum Versuch eine ganz kurze Schrift aus eigenem Stoff abzufassen, denn hier kann beider Blösse erscheinen, die sich in der Vielheit versteckt. Eben daher lieben fast alle angehende und sich selbst überlassene junge Künstler mehr, einen Entwurf von einem Haufen zusammen- 30 gestellter Figuren zu machen, als eine einzige völlig auszuführen. Da nun das wenige, mehr oder geringer, den Unterschied unter Künstlern macht, und das wenige Unmerkliche ein Vorwurf denkender empfindlicher Geschöpfe ist; das viele und handgreifliche aber schlaffe Sinne und einen stumpfen Verstand beschäftigt, so wird der Künstler, der sich Klugen zu gefallen begnügt, im Einzelnen gross und im Wiederholten und Bekannten mannigfaltig und den

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