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deshalb, weil sie an sich etwas Schönes wären, sondern weil der Dichter uns ohne sie nicht in Illusion versetzen könnte. Und Schönheit der Sprache, rhetorisches Pathos, erhabene Bilder verlangen wir nur da, wo sie zum Inhalt und den Personen, denen der Dichter sie in den Mund legt, passen. Ja nur da ertragen wir sie überhaupt. In allen anderen Fällen empfinden wir sie nicht nur nicht als schön, sondern geradezu als hässlich. Es giebt in der That keine Forderung, die man an ein gutes Drama stellen könnte, die nicht in irgend einer Weise mit der Illusion zusammenhinge, letzten Endes auf die Illusion hinausliefe.

Ganz ebenso ist es mit der epischen Poesie. Wenn wir ein episches Gedicht, einen Roman, eine Novelle lesen, so wollen wir uns vor allen Dingen in die Personen, die Ereignisse, die Charaktere, die uns da geschildert werden, hineinversetzen. Wir wollen mit Odysseus hoffen, mit Kriemhild klagen, mit Roland rasen, mit Werther leiden. Der Dichter soll uns zu einer lebendigen Vorstellung der Ereignisse, die er uns erzählt, anregen, er soll uns das Gefühl geben, dass die Menschen, von denen wir da lesen, lebendige Menschen sind, dass sie wahr und menschlich empfinden, natürlich handeln, sich in der wirklichen Natur bewegen.

Allerdings ist es uns nicht gleichgültig, was für einen Inhalt uns der Dichter vorführt. Denn nur ein für uns interessanter Inhalt kann uns packen, und ein Inhalt ist nur dann für uns interessant, wenn er entweder unseren bisherigen Vorstellungen von der Natur und dem Menschenleben entspricht, oder unsere Vorstellungen derart erweitert, dass wir das Kunstwerk doch wieder als eine andere Natur empfinden. Kinder werden durch die Erzählung wunderbarer, phantastischer Ereignisse nicht deshalb ästhetisch angeregt, weil das Wunderbare und Phantastische als solches eine ästhetische Kraft hätte, sondern weil ihre Vorstellungen vom Leben und von der Natur phantastisch sind, der Wirklichkeit nicht entsprechen. Die Menschen des 16. und 17. Jahrhunderts verlangten nicht deshalb von der epischen Poesie die Schilderung interessanter Abenteuer, weil interessante Abenteuer an sich ästhetisch anregend wären, sondern weil man durch das Leben jener Zeit an unsichere und abenteuerliche Verhältnisse gewöhnt war. Der moderne Mensch endlich verlangt nicht deshalb vom Roman statt äusserer Ereignisse innere Wahrheit der Anschauung, feine psychologische Entwickelung, weil die psychologische Entwickelung an sich etwas Höheres,

ästhetisch Wertvolleres wäre als jene, sondern weil seine Erlebnisse sich bei der Einfachheit und verhältnismässigen Sicherheit unserer Zustände mehr innerlich abspielen.

Es ist also nicht der Inhalt als solcher, der bei der ästhetischen Wirkung den Ausschlag giebt, sondern das Verhältnis des vom Dichter gewählten Inhalts zu dem Vorstellungsinhalt seines Publikums, mit anderen Worten seine Fähigkeit, an diesen Vorstellungsinhalt so anzuknüpfen, dass Illusion entsteht. Wenn wir auch Epen des älteren Stils mit wunderbaren phantastischen Ereignissen verstehen und ästhetisch würdigen können, so beweist das durchaus nicht das Gegenteil, sondern erklärt sich einfach daraus, dass wir gewohnt sind, uns bei ihrem Genuss in den Vorstellungsinhalt der Menschen, für die sie bestimmt waren, hineinzuversetzen. Durch dieses Hineinversetzen, was ja auch eine künstlerische Thätigkeit ist, schaffen wir uns eben künstlich einen Vorstellungsinhalt, der es uns ermöglicht auch einmal eine unseren Anschauungen nicht entsprechende Dichtung zu geniessen. Auch hier handelt es sich also um Illusion, und wer sich einbildet, dass an den Homerischen Gedichten das Wunderbare oder Phantastische oder das Erhabene als solches das ästhetisch Wirksame wäre, der hat sie nie mit künstlerischem Genuss gelesen. Das ästhetisch Packende ist immer das Allgemeinmenschliche.

Natürlich verlangen wir auch von einem Roman eine tiefere Weltanschauung. Aber wir verlangen sie wiederum nur im Munde oder im Sinne derer, denen wir sie zutrauen. Dann ist aber das, was uns ästhetisch befriedigt, nicht die Qualität dieser Weltanschauung an sich, sondern ihre Übereinstimmung mit dem Charakter des Helden, dem sie untergelegt wird. Wo aber der Dichter als solcher spricht und uns ganz unabhängig von den Personen seines Romans seine persönliche Weltanschauung mitteilt, da fassen wir dies, mögen wir nun damit übereinstimmen oder nicht, gar nicht als Kunst auf, sondern als verstandesmässige Reflexion. Natürlich hat der Dichter ein volles Recht zu solchen Reflexionen. Denn er ist ja nicht nur Dichter, sondern auch Mensch im allgemeinen, denkender, wollender, strebender Mensch. Er kann als solcher Ethiker oder Sozialist oder Nihilist oder was immer sein. Und wenn er sich als solcher entschliesst, seine revolutionären oder weltverbesserischen Gedanken in das Gewand der Poesie, z. B. des Romans zu hüllen, so kann man ihm das natürlich nicht verbieten, wird es vielleicht sogar sehr klug finden. Nur ist es leider keine Kunst.

Denn alles das könnte er auch ohne Zuhilfenahme der künstlerischen Form sagen.

Deshalb erkennen wir ja auch in der satirischen und didaktischen Poesie, dem Epigramm und der Fabel niedere Gattungen der Poesie, die an Wert der Dramatik, Epik und Lyrik nicht gleichstehen. Bei jenen Kunstgattungen kommt eben zu dem unmittelbaren ästhetischen Zwecke noch ein anderer, eine Tendenz hinzu. Die Satire will verletzen oder verspotten, das didaktische Gedicht belehren, das Epigramm ein geistreiches Urteil abgeben, die Fabel wenigstens in ihrer späteren Form - Lebenswahrheiten veranschaulichen. Das sind aber Zwecke, die zum Teil gar nichts mit der Kunst zu thun haben. Alle wahre Kunst will in erster Linie Lust, in zweiter Lust, und in dritter wieder Lust erregen. Auch Drama und Epos erregen Lust, nämlich Lust durch Illusion. Und sie thun es um so mehr, je weniger sie eine Tendenz haben, je mehr sie sich jedes weiteren Zwecks enthalten. Das geht schon aus den Bestimmungen des vorigen Kapitels zur Genüge hervor. Natürlich verlangen wir von einem guten Roman auch eine schöne Form, also da wir auf die gebundene Rede schon längst keinen Wert mehr legen eine gewählte und klangvolle Sprache. Aber wir verlangen sie, abgesehen von den Fällen, wo der Dichter für seine Person spricht, nur da, wo wir sie den Personen, in deren Munde wir sie hören, zutrauen können. Nichts ist langweiliger als ein Roman, in dem alle Personen das gleiche gebildete und geistreiche Deutsch reden, mögen sie nun Gelehrte oder Handwerker, Grafen oder Sozialdemokraten, Beamtenfrauen oder Dienstmädchen sein. Man könnte die Werke gefeierter Romandichter nennen, um dies zu illustrieren.

Ausserdem gehört es zur Form, dass die Ereignisse richtig gruppiert werden, das Wichtige neben dem Unwichtigen genügend hervortritt, eine allmähliche Steigerung der Handlung die Spannung weckt und rege hält. Aber alles das sind wieder Forderungen der Illusion, da ohne das eben keine Illusion entstehen würde.

Das Hauptkennzeichen dieser Illusion für den Geniessenden ist die Spannung, in die er durch die Erzählung versetzt wird. Was ist es denn, was uns beim Lesen von Werthers Leiden, von Otto Ludwigs Zwischen Himmel und Erde, von Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe, von Storms Bötjer Basch mit so magischer Gewalt fesselt, uns in so atemlose Spannung versetzt, uns alles um uns her vergessen lässt? Es ist das Gefühl, dass

wir mit den Personen leben, dass wir mit ihnen, auch wenn wir ihr Thun nicht billigen, doch die grösste Sympathie haben, dass wir das Echtmenschliche ihres Wesens herausfühlen. Mit fieberhafter Spannung verfolgen wir die Entwickelung ihrer Charaktere, fortwährend fragen wir im Stillen: Wie wird sich ihr Leben gestalten, ihr Charakter unter diesen oder jenen Umständen bewähren, was werden sie unter diesen oder jenen Voraussetzungen thun? Und hat der Dichter sie wahr und menschlich gezeichnet, so folgen wir seiner Schilderung mit immer steigendem Interesse und sagen schliesslich mit einem Gefühl der reinsten Freude: Ja, so musste es kommen, das war es, was nach der bisherigen Entwickelung eintreten musste, das ist wahr, echt, natürlich, menschlich, überzeugend. Und dabei ist es ganz einerlei, ob die dargestellten Ereignisse traurig oder lustig oder keines von beiden sind, ob die beiden Helden ,,sich kriegen" oder ins Wasser gehen.

Es giebt freilich Ästhetiker, die uns einreden möchten, auf diese Spannung komme es in der Kunst gar nicht an. Sie sei vielmehr ein niederes, gemeines Mittel, eine rohe Sensation, kurz und gut eines grossen Dichters unwürdig. Wahrscheinlich denken sie dabei an Kolportage- und Hintertreppenromane, aber ihr ästhetisches Denken reicht nicht weit genug, um sich klar zu machen, dass diese ja gerade nicht durch ihre innere psychologische Wahrheit, sondern durch ihren aufregenden Inhalt, durch kriminalistische und sexuelle Motive wirken. Und wenn sie dieser Sensationskunst Romane wie die Wahlverwandtschaften oder den Grünen Heinrich oder die Kinder der Welt entgegenstellen, in denen sich die ,,reife Weltanschauung grosser Dichter" mit einer ,,schönen, abgeklärten" Form paare, in denen die ,,klangvolle Sprache" und der ,,Rhythmus der Ereignisse" uns in eine höhere Sphäre versetzten, so machen sie sich nicht klar, dass auch diese Romane in ihrer Art spannen, und dass das, was an ihnen künstlerisch ist, weder die Weltanschauung noch die Form, sondern die Kraft der Illusion ist, mit der der Dichter uns in Spannung zu versetzen, die Menschen und Dinge illusionsmässig zu schildern weiss.

Natürlich gehört es nicht zum Wesen der Spannung, dass sie durch äussere Ereignisse, interessante Abenteuer, durch das Aktuelle des Inhalts erzeugt wird: im Gegenteil der moderne Mensch will aus Gründen, die ich schon erwähnt habe, dass die Spannung vorzugsweise durch die innere psychologische Wahrheit erzeugt

werde. Wie wenig geschieht in Storms Novellen, und wie tief und gewaltig ist die Spannung, d. h. die Wirkung aufs Gefühl, die sie ausüben! Darin besteht eben die Macht der Illusion, die suggestive Kraft des grossen Dichters, dass er auch mit dem scheinbar unbedeutendsten Inhalt, wenn er uns nur an unserer menschlichen Seite zu packen weiss, die grössten Wirkungen erzeugen kann. Wer sich durch wirklich gute Romane und Novellen nicht in Illusion versetzen lässt, wer sich am Ende gar noch etwas darauf einbildet, dass er bei der Lektüre gar keine Spannung empfindet, vielmehr nur an die Schönheit der darin verkörperten Weltanschauung, an die Richtigkeit der darin vorkommenden Sentenzen, an den Rhythmus der Ereignisse, an die klangvolle Sprache denkt, der hat nie in seinem Leben episch empfunden, der redet wie der Blinde von der Farbe.

Jetzt wird uns auch klar sein, warum selbst die künstlerische Schilderung historischer Ereignisse keine Kunst im eigentlichen Sinne des Wortes ist. Nicht nur weil sie einen ausserhalb des Genusses liegenden wissenschaftlichen Zweck hat, es fehlt ihr auch das Moment der Illusion. Allerdings kann auch der Historiker spannend schildern, so dass seine Hörer oder Leser die Dinge lebendig vor Augen zu sehen glauben. Und es mag im einzelnen Falle nicht immer leicht sein, die Grenze zwischen einer historischen Schilderung in künstlerischer Form und einem Roman mit historischer Grundlage zu ziehen. Mancher naturalistische Roman nähert sich in seinen schildernden Teilen einer wissenschaftlichen Kulturschilderung und manche historische Erzählung in der Schilderung und Aufdeckung der psychologischen Motive einem Roman. Dennoch ist über das Prinzip der Unterscheidung kein Zweifel. Der Unterschied ist in dem seelischen Erlebnis dessen zu suchen, der das Werk liest. Der Historiker darf nur das beschreiben, was sich wirklich oder wenigstens nach seiner Überzeugung wirklich begeben hat, und was deshalb auch der Leser als Wirklichkeit hinnimmt. Der Romanschriftsteller ist im Gegenteil gerade deshalb Künstler, weil er das schildert, was sich nie und nirgends begeben hat, und was deshalb auch der Lesende nur als ästhetischen Schein geniesst. Und er kann es geniessen, weil er das Gefühl hat, dass es sich nach menschlichem Ermessen leicht begeben haben könnte, weil es dem Wesen des Menschen entspricht. Beim Historiker tritt die Illusion, d. h. die phantasiemässige Ergänzung und Formulierung des thatsächlich Nachweisbaren in den Dienst des

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