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schränktes Ich, sondern die ganze Menschheit umfasst, dass er nach Belieben aus sich heraustreten und ein anderer werden kann. Und das ist gerade Illusion.

Wenn das aber schon vom Dichter gilt, wie viel mehr muss es vom Hörer oder Leser gelten, der sich meistens nur für die kurze Zeit des Vortrags oder der Lektüre eines Gedichts in die Stimmung, die es atmet, versetzen lassen will. Man denke sich in die Lage eines Menschen, der nach des Tages Last und Mühe, um sich geistig anzuregen und zu erquicken, nach einem Liederbuche greift und nun hintereinander her eine Reihe von Gedichten, vielleicht eines, vielleicht auch mehrerer Dichter liest, die alle eine verschiedene Stimmung atmen. Soll man etwa annehmen, dass er in der kurzen Zeit der Lektüre zehn oder zwanzig Gefühle, entsprechend der Zahl der gelesenen Gedichte, als Ernstgefühle in sich erlebte? Das hiesse doch wohl die psychische Leistungsfähigkeit eines Menschen überschätzen. Nein, was er erlebt, ist eben ein einheitliches Gefühl, d. h. ästhetischer Genuss. Der Inhalt dieses Gefühls, d. h. die Ernstgefühle, die er sich währenddem vorstellt, in die er sich künstlerisch versetzt, sind wechselnd, aber sie kommen ihm eben nur in abgeschwächter Form, als Scheingefühle zum Bewusstsein.

Natürlich wird man gegen diese Illusionsgefühle oder Scheingefühle immer einwenden, dass durch ihre Annahme die Kunst zu einem leeren unnützen Spiel, zu einer Lüge, einer Unwahrheit degradiert werde. Und es wird nicht leicht sein, einem braven Spiessbürger, der immer nur das gethan und gesagt hat, was er wirklich fühlte, oder einem ernsthaften Gelehrten, dessen ganze Thätigkeit der Ermittelung der Wahrheit geweiht ist, der also alle Lüge, alles Scheinwesen verachtet, klar zu machen, dass es sich hier nicht um ethische Vortrefflichkeit oder wissenschaftliche Wahrheit handelt, sondern um die Kunst, die ja kein ethisches Wollen und kein wissenschaftliches Erkennen ist. Und es wird immer Menschen geben, die höchst überrascht sind, wenn man ihnen sagt, dass man die Kunst allerdings für ein Spiel halte, freilich kein „leeres“ und „unnützes", sondern eins, das ebenso wichtig und nützlich ist wie alle Spiele, die sich ja natürlich nicht ausgebildet hätten, wenn der Mensch sie nicht brauchte.

Den Nachweis, dass die Kunst ein Spiel, und zwar ein sehr nötiges und nützliches Spiel ist, werde ich später im fünfzehnten Kapitel mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln führen. Hier

möchte ich dem Leser nur zur Erwägung geben, dass es wohl kaum als ein,,leeres" und „unnützes" Spiel bezeichnet werden kann, wenn der Mensch durch lyrische Poesie gezwungen wird, zeitweise aus seiner beschränkten Existenz herauszutreten, seine eigenen egoistischen Gefühle zu vergessen, sich, wenn auch nur vermittelst der Illusion, in die Gefühle anderer hineinzudenken. Eine Kunstform, die den Menschen hierzu zwingt und ihm trotzdem, ja geradezu durch diesen Zwang gleichzeitig Genuss gewährt, verdient wohl weniger den Namen eines leeren Spiels als den eines hervorragenden Mittels zur geistigen Vervollkommnung des Individuums, zur Einigung und Förderung des Menschengeschlechts.

Mit dem richtigen Verständnis der Lyrik haben wir auch den Schlüssel zum Verständnis der Musik gefunden. Diese ist ja von jeher eng mit jener verbunden gewesen und darf schon deshalb nicht von ihr getrennt werden. Hier stossen wir nun auf den alten früher zum Überdruss behandelten Streit, ob die Musik eine Formkunst oder eine Kunst des Inhalts sei. Die Formalisten glauben bekanntlich das erste, die Inhaltsästhetiker das zweite. Jene behaupten, die Musik könne keine Gefühle ausdrücken, sie sei weder fromm noch gottlos, sie sei eben einfach Musik, d. h. eine Kunst für sich, die mit den ihr eigentümlichen Mitteln, d. h. mit den rein musikalischen Formen des Rhythmus, der Melodie und Harmonie wirke. Einen Inhalt habe nur die Vokalmusik, wobei aber nicht die Töne, sondern die Worte und die mit ihnen ausgedrückten Gedanken die Träger dieses Inhalts seien. Die reine Musik, d. h. die Instrumentalmusik, die sogenannte „absolute" Musik habe keinen Inhalt, könne überhaupt keinen haben. Sie könne deshalb auch keine ethischen oder religiösen Gefühle im Menschen erzeugen, sie mache den Hörer weder besser noch schlechter, sondern ergötze ihn einfach durch ihre Form.

Die Inhaltsästhetiker dagegen oder die Vertreter der Musik als Ausdruckskunst behaupten, die Musik könne allerdings Gefühle ausdrücken. Auch die reine Instrumentalmusik habe einen Inhalt, könne selbst ohne Zuhilfenahme des Wortes ernste und heitere, fromme und leichtsinnige, religiöse und weltliche Gefühle wiedergeben. Und durch diesen ethisch genau bestimmbaren Charakter wirke sie auch ethisch auf den Menschen ein, mache sie ihn thatsächlich fromm oder leichtsinnig, traurig oder lustig. Ja sie gehen sogar weiter und behaupten, dass die Musik imstande sei, grössere Gefühls- oder Gedankenkomplexe von bestimmtem Inhalt darzu

stellen, eine Behauptung, aus der sie dann unmittelbar die Berechtigung der Programmmusik ableiten.

Der Streit zwischen Form- und Inhaltsästhetik auf diesem Gebiete dauert noch immer fort. Bis auf diesen Tag stehen sich die Meinungen schroff gegenüber, und selbst im Kreise von Fachmusikern kann man noch immer beide Anschauungen mit voller Schärfe verteidigen hören. Schon die ganz verschiedenen Urteile über die Programmmusik, überhaupt über die modernen musikalischen Bestrebungen beweisen, dass eine Einigung bis auf diesen Tag nicht erzielt ist.

Hier zeigt sich nun die Illusionstheorie in ihrer ganzen Fruchtbarkeit. Denn wenn man von ihr ausgeht, kommt man sofort zu der Überzeugung, dass beide Parteien sowohl recht als auch unrecht haben. Die Lösung des Rätsels liegt eben in der Gefühlsillusion. Man hat die Alternative bisher immer so gestellt: entweder die Musik ist eine reine Formkunst, dann kann sie überhaupt keine Gefühle ausdrücken resp. darstellen. Oder sie kann Gefühle darstellen, dann ist sie keine Formkunst, sondern eine Kunst des Inhalts, des Ausdrucks. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten giebt es aber noch eine dritte und das ist die, dass die Musik sowohl Form- als auch Ausdruckskunst sei, dass sie durch das Mittel der Form Gefühle ausdrücke, dass diese Gefühle aber Scheingefühle, Illusionsgefühle seien.

Zunächst ist es klar und wird auch von den Formalisten nicht bestritten, dass die Musik eine gewisse Fähigkeit des Ausdrucks hat, dass sie eine traurige und fröhliche, eine ernste und leichtsinnige, eine befriedigte und sehnsüchtige Stimmung ausdrücken kann. Ein Trauermarsch wird auf Grund seiner Formen als Musik von traurigem Charakter empfunden, ein Tanz bedarf durchaus nicht des Hinzutritts der Worte, um ein lustiges ausgelassenes Gefühl hervorzurufen. Ist das aber richtig, so geht daraus hervor, dass die Formen der Musik, Rhythmus, Melodie und Harmonie, gar keine rein formalen Reize, sondern als solche gleichzeitig Mittel des Ausdrucks sind. Sie lösen eben infolge gewisser im Bewusstsein des Menschen schlummernder Assoziationen gewisse Gefühle aus.

Andererseits haben aber die Formästhetiker vollkommen recht, wenn sie sagen, diese Gefühle seien keine wirklichen ethischen Gefühle, es gebe weder eine fromme noch eine unfromme Musik, durch Töne könne man einen Menschen weder besser noch

schlechter machen. Jedenfalls sei es ganz unmöglich, mit ihren rein musikalischen Mitteln ohne Hinzutritt des Wortes zusammenhängende Ereignisse oder grössere Gefühls- und Gedankenkomplexe darzustellen.

Aber dieser Einwand fällt sofort zusammen, wenn man an die Stelle von Gefühlen Gefühlsvorstellungen oder Illusionsgefühle setzt; wenn man sagt: die Musik ist sowohl Form- als auch Ausdruckskunst, denn ihre Form dient ja eben dem Ausdruck; was sie ausdrückt, sind aber keine wirklichen ernsthaften Gefühle, sondern Scheingefühle, durch die der Mensch deshalb auch keineswegs in seinem Wollen und Handeln beeinflusst wird. Das alles lässt sich leicht nachweisen.

Wenn ich im Konzertsaal einen Trauermarsch oder sonst eine Tonschöpfung von feierlich traurigem Charakter höre, so ist es selbstverständlich, dass diese langsamen schweren Rhythmen, diese dumpfen gehaltenen Harmonien in mir eine Stimmung der Trauer erzeugen. Aber diese ,,Stimmung" ist keineswegs eine wirkliche Trauer. Über wen sollte ich auch trauern? Es ist ja niemand von meinen Angehörigen gestorben, ich habe kein besonderes Unglück erlebt, im Gegenteil, als ich in das Konzert ging, war ich lustig und guter Dinge und wollte mir deshalb einen Genuss verschaffen. Und wahrscheinlich werde ich auch nach dem Konzert wieder gut aufgelegt sein, vielleicht mit meinen Freunden ein Glas Bier trinken u. s. w. Sollte es nun wirklich der Musik möglich sein, mich für die wenigen Minuten, die sie dauert, in eine wirkliche Trauer zu versetzen? Man unterschätzt doch wohl das Gefühl der Trauer, wenn man glaubt, es könne so ohne weiteres durch ein paar Mollakkorde in die Seele hineingebracht und durch ein paar Durakkorde wieder herausbefördert werden.

In der That sehen ja auch die Zuhörer im Konzert durchaus nicht so aus, als ob sie trauerten. Sie weinen nicht, sie klagen nicht, sie zeigen nicht einmal einen traurigen Gesichtsausdruck. Sie sitzen nur mit gespannten und höchst angeregten Gesichtern da, d. h. sie erleben einen ästhetischen Genuss, und dieser besteht in einer Illusion. Sie versetzen sich künstlich in das Gefühl der Trauer, sie stellen sich vor, dass sie traurig wären.

Wenn ich das Scherzo einer Sonate oder Symphonie höre, so empfinde ich natürlich seinen flotten, lustigen, neckischen Charakter. Geht daraus aber hervor, dass ich währenddem wirklich, mit meiner ganzen Seele lustig bin? Vielleicht habe ich Ursache,

gerade jetzt missgestimmt zu sein, da mir etwas Unangenehmes passiert ist, vielleicht ist auch meine Stimmung eine ganz indifferente. Soll ich nun wirklich während der kurzen Zeit, wo ich das Scherzo höre, reale Freude empfinden? Schwerlich. Wenigstens fühle ich an mir hier kann man ja nur auf Grund von Selbstbeobachtung reden, dass meine Lustigkeit in diesem Falle nicht ganz dieselbe ist wie die, die sich meiner im Leben, infolge irgend eines freudigen Ereignisses bemächtigt. Es liegt etwas wie ein Schleier darüber, es ist Lustigkeit und ist doch wieder keine, kurz es ist ein Illusionsgefühl.

Die herrschende Ästhetik wird freilich auch hier wieder sagen: Ein Gefühl ist ein Gefühl, es hat eben dadurch, dass es gefühlt wird, Realität. Sehr richtig. Das ästhetische Lustgefühl, das ich beim Anhören eines Trauermarsches oder eines Scherzos habe, ist Realität. Aber sein Inhalt, d. h. das eine Mal Trauer, das andere Mal Lust, ist keine Realität, sondern ästhetischer Schein. In Hinsicht auf das Fühlen überhaupt ist das Gefühl natürlich Wirklichkeit, in Hinsicht auf den Inhalt nur Illusion. Bei dieser Illusion ist die Seele in Beziehung auf die wirklichen Gefühle wie das Meer, dessen Oberfläche nur leicht durch eine frische Brise gekräuselt, vielleicht auch durch einen etwas stärkeren Wind bis zu einer gewissen Tiefe erregt wird. Aber die Erregung geht nicht bis auf den Grund, weiter unten, in der tiefsten Tiefe bewegt sich nichts, da herrscht volle Ruhe.

Lyrik und Musik sind also Künste der Gefühls- oder Stimmungsillusion. Der Unterschied zwischen Stimmung und Gefühl, den unser Sprachgebrauch macht, ist der, dass ein Gefühl rasch ausbrechen und rasch wieder verschwinden kann, eine Stimmung dagegen sich langsam entwickelt und länger, d. h. während einer ganzen Zeit andauert. Eine Stimmung kann sowohl ernsthaft als ästhetisch sein. Natürlich ist das ein grosser Unterschied. Die Stimmung, in der sich ein Kranker befindet, der den Fortschritt seiner Krankheit an dem allmählichen Schwinden seiner Kräfte beobachtet, ist ganz anderer Art als die, in der sich der Beschauer eines Bildes befindet, das eine Krankenstube darstellt. Das Wort Stimmung brauchen wir nun besonders gern im ästhetischen Sinne. Wenn wir von einem Gemälde oder einem Musikstück sagen: es hat Stimmung, es ist stimmungsvoll, so meinen wir damit: es erzeugt Stimmung, es versetzt den Beschauer, den Zuhörer in eine Stimmung. Diese Stimmung ist nichts.

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