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EINLEITUNG

IESES Buch möchte sowohl eine wissenschaftliche Ästhetik als

DIES

auch eine populäre Kunstlehre sein. Der Verfasser bittet deshalb, bei seiner Beurteilung den Massstab anzulegen, zu dem dieser doppelte Anspruch herausfordert. Es ist nicht nur seine Absicht, die wissenschaftliche Forschung durch eingehende Begründung der Illusionstheorie auf eine neue Grundlage zu stellen, sondern auch weitere Kreise, die sich für Kunst interessieren, zum Nachdenken über ihr Wesen und ihre Aufgaben anzuregen.

Ob es möglich ist, diese beiden scheinbar unvereinbaren Aufgaben gleichzeitig zu lösen, muss der Erfolg lehren. Jedenfalls ging die Absicht dahin, einerseits nur selbständige Forschung und eigene Gedankenarbeit zu bieten, andererseits das Gebotene in eine Form zu kleiden, die jedem Gebildeten verständlich wäre. Die Probleme, deren Lösung hier versucht wird, werden sämtlich von unten herauf, ohne jede Voraussetzung entwickelt, es ist sogar erwünscht, dass der Leser ohne Kenntnis früherer ästhetischer Systeme an die Lektüre herantrete. Denn so wird es ihm eher möglich sein, objektiv zu beurteilen, ob die hier begründete Lehre konsequent und in sich geschlossen ist oder nicht.

Ich weiss sehr wohl, dass eine Ästhetik heutzutage mit starken Vorurteilen und Antipathien zu kämpfen hat. Die meisten Menschen, selbst die, die sich für Kunst interessieren, wollen die Berechtigung einer Wissenschaft nicht anerkennen, von der sie sagen, dass man damit keinen Hund vom Ofen locken könne. Sie glauben, jedermann müsse das, was Kunst sei, von selbst fühlen, es sei ganz müssig, ihr Wesen in Begriffe und Worte fassen zu wollen.

Wenn das richtig wäre, so brauchten wir nicht nur keine Ästhetik, sondern überhaupt keine Philosophie, auch keine Ethik und Theologie, kurz keine Wissenschaft. Denn da kann man überall dasselbe behaupten, überall denselben Gegensatz zwischen dem Leben einerseits und dem Erkennen und Erforschen dieses Lebens andererseits aufstellen. Da nun aber der gebildete Mensch einmal das Bedürfnis hat, sich über sein Denken, Fühlen und Handeln auch begrifflich klar zu werden, so liegt kein Grund

vor, das ästhetische Fühlen von diesem Bedürfnis auszuschliessen, ihm eine wissenschaftliche Behandlung vorzuenthalten, die man anderen Gebieten des menschlichen Lebens ohne Bedenken zu teil werden lässt.

Die herrschende Abneigung gegen die Ästhetik ist freilich insofern begründet, als sie sich auf die älteren metaphysisch-transzendentalen Systeme, sowie auf die gegenwärtig in Deutschland herrschenden Theorien der „Einfühlung" und ,,Assoziation" bezieht. Mit diesen kann man allerdings, wie ich zeigen werde, nicht zu einem wahren Verständnis der Kunst kommen. Das liegt aber nicht an der Ästhetik, sondern an ihrer falschen Begründung. Und es mag deshalb gleich hier bemerkt sein, dass mein Buch wesentlich gegen diese Systeme gerichtet ist. Ich bitte den Leser dringend, mich nicht mit den Ästhetikern zu verwechseln, die der Kunst fortwährend Gesetze geben wollen, ohne danach zu fragen, ob sie auch in ihrem Wesen begründet sind; die noch immer, nach allem, was uns die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gebracht hat, von der Kunst fordern, sie solle das,,Schöne" oder das ,,ethisch Wertvolle" oder das ,,menschlich Bedeutsame" darstellen, als wenn dieses mit ästhetischen Mitteln festzustellen wäre, oder die gar glauben, das Schöne lasse sich geometrisch oder arithmetisch berechnen, in Zahlen und Masse fassen.

Für diese Art philosophischer Ästhetik habe ich niemals Verständnis gehabt. Ich selbst bin nicht von der Philosophie, sondern von der Kunstgeschichte zur Ästhetik gekommen. Nicht der Wunsch, die Lehre vom ,,Schönen" zusammen mit der vom ,,Wahren“ und „,Guten" einem schon vorher feststehenden metaphysischen System einzugliedern, hat mir die Feder in die Hand gedrückt, sondern das ganz simple Bedürfnis, von den einzelnen Thatsachen der Kunstgeschichte zu einer allgemeinen Anschauung vom Wesen der Kunst vorzudringen. Kein Wunder, dass meine Resultate wesentlich von denen anderer Ästhetiker abweichen, dass ich es nicht für meine Aufgabe halten konnte, der Kunst von obenher Gesetze zu diktieren, die gar keine sind, sondern nur die in ihr selbst liegenden Gesetze möglichst genau zu erforschen.

Deshalb braucht der Leser auch keine Polemik gegen andere Ästhetiker zu fürchten. Natürlich lässt es sich nicht vermeiden, wenn man eine neue Theorie wie die der Illusion begründen will, dass man ihre Vorzüge vor den älteren Theorien hervorhebt. Und daraus ergiebt sich von selbst, dass man auch die

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Schwächen der letzteren nicht verschweigen darf. Aber das kann ohne persönliche Polemik geschehen. Der Verfasser hätte zu dieser freilich allen Grund gehabt. Die vorliegende Theorie ist schon vor sechs Jahren in einem kurzen Auszug veröffentlicht worden, nämlich in der Tübinger Antrittsvorlesung:. Die bewusste Selbsttäuschung als Kern des künstlerischen Genusses (Leipzig 1895). Natürlich kann man in einem dreiviertelstündigen Vortrag die Begründung einer neuen ästhetischen Theorie nur in den gröbsten Umrissen geben, wobei es ohne gewisse Gewaltsamkeiten nicht abgeht. Eine Aquarellskizze ist eben kein ausgeführtes Ölbild. So unklar glaubte ich mich aber doch nicht ausgedrückt zu haben, dass es möglich wäre, mich mit denselben Argumenten zu widerlegen, die geradezu die Stütze meiner Theorie bilden, also meine Lehre genau in ihr Gegenteil umzukehren. Unter diesen Umständen wäre eine derbe Abfertigung einiger Vertreter der herrschenden Theorien wohl am Platze gewesen.

Ich habe darauf verzichtet, weil ich weiss, dass das grössere Publikum sich für wissenschaftliche Streitfragen gar nicht interessiert. Die Aufnahme, die meine „,bewusste Selbsttäuschung" in Fachkreisen gefunden hat, hat mir auch gezeigt, dass man ältere Fachgenossen nicht zu bekehren versuchen sollte. Es ist psychologisch undenkbar, dass ein Ästhetiker, der sein ganzes Leben der Ausbildung eines Systems gewidmet hat, in dem das Wort Illusion gar nicht oder nur in verächtlichem Sinne vorkommt, nun mit einemmale eine Theorie billigen sollte, die ganz auf der Illusion aufgebaut ist.

Man braucht ja auch gar nicht zu verlangen, dass alle Menschen dieselbe Auffassung von der Kunst haben. Es führen gar viele Wege nach Rom, und die Kunst bleibt dieselbe, mag sie nun heute von dieser, morgen von jener Seite betrachtet werden. Jedes Ding hat verschiedene Seiten, und jeder Forscher wird es schliesslich von derjenigen ansehen, die seiner Neigung und Vorbildung am meisten entspricht. Die meinigen weisen mich auf die bildende Kunst und die Kunstgeschichte. Mögen andere die Sache an einem anderen Ende anfassen. Die Wissenschaft kann dabei nur gewinnen.

Man lege mir also die Nichterwähnung der früheren Litteratur nicht als Nachlässigkeit oder Hochmut aus. Ihr Inhalt ist, soweit es mir nötig schien, in die Darstellung verarbeitet worden, wenn diese auch nicht den Anspruch macht, fremde Forschungen zu

sammenzufassen und zu popularisieren. Aus zwanzig Büchern ein einundzwanzigstes zu machen, hat mir ganz fern gelegen. Der Fachmann, der mein Buch seiner Aufmerksamkeit würdigen sollte, wird die Beziehung zur älteren Litteratur und die Polemik gegen die herrschenden Theorien leicht zwischen den Zeilen lesen, der Nichtfachmann, der den ästhetischen Streitfragen fern steht, wird sie schwerlich vermissen. Fremde Theorien widerlegt man, wie ich glaube, am besten durch die einwandfreie Begründung der eigenen.

Das,,Wesen der Kunst" ist bestimmt für Künstler und Kunstfreunde, die lebendig künstlerisch empfinden und gleichzeitig das Bedürfnis haben, sich über die Ursachen ihrer Empfindung, über das Wesen des ästhetischen Genusses begrifflich klar zu werden. Dies ist ein rein intellektuelles Bedürfnis. Man kann ein guter Künstler und ein begeisterter Kunstfreund sein, ohne den Wunsch einer solchen theoretischen Erkenntnis zu haben. Deshalb soll dieses Buch auch niemand zum künstlerischen Genuss erziehen oder gar im künstlerischen Schaffen unterweisen. Das ist mit Worten überhaupt unmöglich. Dazu ist praktische Kunsterziehung das einzige Mittel. Aber vielleicht kann diese aus einer theoretischen Untersuchung immerhin einigen Nutzen ziehen, so dass also das Wesen der Kunst" indirekt doch demselben Zwecke dienen würde, wie die,,künstlerische Erziehung der deutschen Jugend" (Darmstadt 1893) Grau ist die Theorie nur in Bezug auf ihre unmittelbare Wirkung. Mittelbar wird sie, wenn sie gut ist, stets in die Praxis des Lebens eingreifen. Vergeblich würde man versuchen, mit Worten und logischen Distinktionen die Flamme der Kunstbegeisterung anzufachen, wo nicht durch Vererbung und frühe künstlerische Anschauung und Erziehung wenigstens ein Funke von Kunstgefühl in die Seele des Menschen gelegt ist. Was man als Ästhetiker thun kann, das ist nur, durch vorurteilslose Forschung die Asche und die Schlacken aus dem Wege zu räumen, die den vorhandenen Funken verhindern könnten, zur erwärmenden und belebenden Flamme emporzulodern.

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Ich habe in der That die Überzeugung, dass die meisten. Menschen ästhetisch viel begabter sind als sie glauben. Ihr künstlerisches Gefühl ist nur durch zu spät begonnenen und unzweckmässig geleiteten Jugendunterricht, durch einen Wust unhaltbarer Schultheorien verbildet und in seiner natürlichen Entwickelung gehemmt. Diesen besonders in den oberen Klassen unserer

Gymnasien und höheren Mädchenschulen leider immer noch aufgehäuften Schutt gilt es hinwegzuräumen, damit das Feuer Platz und Luft zu brennen habe. Nicht positive, sondern negative Arbeit muss verrichtet werden. Alles übrige besorgt die angeborene Kunstbegabung.

Am liebsten wären mir wie gesagt Leser, die noch kein ästhetisches Buch in der Hand gehabt haben, auf keine der herrschenden Theorien eingeschworen sind. Sie würden mir am unbefangensten folgen und am ersten imstande sein, meine Lehre zu würdigen, [die, wenn auch nicht ganz ohne Vorgänger in der neueren Ästhetik, doch, wie schon angedeutet, weit verbreiteten und tief eingewurzelten Vorurteilen entgegentritt.

Dagegen möchte ich den Lesern dieses Buches eine möglichst umfassende Anschauung von bildender Kunst wünschen. Diese selbst zu bieten, d. h. dem Buche Illustrationen beizugeben, schien mir nicht am Platze, da wir seit einigen Jahren mehrere hervorragende Anschauungswerke haben, die zu billigem Preise eine Fülle von Abbildungen aus den Gebieten der Malerei, Plastik und Architektur enthalten. Spemanns Museum und Baukunst, Bruckmanns klassischer Bilderschatz und klassischer Skulpturenschatz, Seemanns Kunstgeschichte in Bildern, Hirths Formenschatz und Stil, Knackfuss' Künstlermonographien bieten ein überreiches Material zur Illustrierung der hier ausgeführten Gedanken, dessen fortwährende Vergleichung sich während der Lektüre empfiehlt. Das „Wesen der Kunst" ist geradezu als Ergänzung dieser Publikationen gedacht. Ihre weite Verbreitung hat mich der Pflicht enthoben, ein ,,Bilderbuch" zu schreiben, den vielen illustrierten Werken über Kunst noch ein weiteres hinzuzufügen. Das ist auch. kein Schade. Bildliche Anschauung ist ja etwas Schönes. Allein man kann auch das beste Prinzip übertreiben. Wir sind in den letzten Jahren, wie ich glaube, mit Anschauung übersättigt worden. Was uns not thut, ist eine ästhetische Durcharbeitung dieses enormen Materials, eine Zusammenfassung des Einzelnen unter allgemeinen Gesichtspunkten, eine Entwickelung der künstlerischen Prinzipien auf logischer und psychologischer Grundlage.

Gegenwärtig ist es allein die Kunstgeschichte, die die Kosten der zusammenfassenden Kunstunterweisung trägt. Die Zahl der kunsthistorischen Monographien und Handbücher, die in den letzten Jahren erschienen sind, ist enorm. Es mehren sich aber die Anzeichen dafür, dass die einseitig - historische Richtung der Kunst

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