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ästhetischen Bedürfnissen aller Menschen, mit einem Wort dem ästhetischen Gattungsinstinkt entsprechen. Das ästhetische Bedürfnis der Menschen ist nun aber etwas Psychisches, es kann sich folglich bei der Bestimmung der künstlerischen Gesetze nur um die Art handeln, wie der Inhalt und die Form psychisch aufgenommen und verarbeitet werden. Die Ästhetik dreht sich deshalb jetzt vorwiegend um die Ermittelung des psychischen Vorgangs, den wir Kunstanschauung nennen. Mag man diesen nun als „Einfühlung" oder „Assoziation", als „,Resonanz" oder „,innere Nachahmung", als „,ästhetischen Schein" oder „Symbol", als „,künst lerische Illusion" oder „,bewusste Selbsttäuschung" auffassen, immer handelt es sich um etwas rein Psychisches, Subjektives, um einen Bewusstseinsvorgang, der ermittelt werden muss, wenn man die Gesetze der Kunst erkennen will. Dieser Bewusstseinsvorgang, der unmittelbar durch die Wahrnehmung des Kunstwerks veranlasst wird, ist nach der allgemeinen Auffassung die Form, in der sich der Kunstgenuss vollzieht. Und die objektiven Eigenschaften des Kunstwerks, die den Menschen zu ihm anregen, sind es, die man als das Kunstschöne bezeichnet.

Auffallend ist dabei nur, dass die herrschende Ästhetik, obwohl sie der Form- und Inhaltsästhetik gegenüber immer ganz richtig die psychische Seite betont, doch bisher eigentlich nie dazu gekommen ist, diesen Gedanken konsequent durchzuführen und das Schöne, indem sie es ganz vom Inhalt und der Form loslöste, lediglich auf diesen psychischen Vorgang zu gründen. Die Illusionstheorie ist die erste ästhetische Theorie, die diese Konsequenz zieht, den fruchtbaren Gedanken der psychologischen Analyse konsequent weiterdenkt und dadurch zu dem Resultat kommt, dass eben dieser psychische Vorgang selbst als unmittelbare Ursache der ästhetischen Lust aufzufassen ist.

Natürlich muss sie zu diesem Zwecke nachweisen, dass dieser psychische Vorgang bei allen Menschen derselbe ist. Das könnte im ersten Augenblick, angesichts der Verschiedenheit des Geschmackes und der vielen im Laufe der Zeit aufgetauchten Kunstrichtungen, unmöglich erscheinen. Es ist aber dennoch, wie sich nachweisen lässt, sehr wohl möglich. Man muss sich dabei nur klar machen, dass die Voraussetzung dieses psychischen Vorgangs ja nicht ein so und so beschaffener Inhalt und auch nicht eine so und so beschaffene Form ist, sondern ein bestimmtes Verhältnis zwischen der Form und dem Inhalt einerseits und gewissen im

Bewusstsein des Geniessenden vorhandenen Vorstellungen andererseits. Ein Klassizist und ein Naturalist geniessen die Kunst keineswegs in verschiedener Weise, sondern sie bringen nur zum Kunstgenuss einen verschiedenen Bewusstseinsinhalt hinzu, indem der eine diese, der andere jene Vorstellung von der Natur hat. Und indem nun jeder von ihnen vom Kunstwerk verlangt, dass es seinen Vorstellungen von der Natur entspreche, ergiebt sich, dass die Kunstwerke, die sie beide schön finden, eine verschiedene Form und einen verschiedenen Inhalt haben müssen. Das beweist aber natürlich nicht, dass der psychische Vorgang, der sich in ihnen während der Anschauung des Kunstwerks vollzieht, ein verschiedener ist. Bei zwei Verhältnissen können die Glieder ganz gut verschieden sein, ohne dass darum das Verhältnis selbst verschieden zu sein braucht.

Deshalb ist aber gerade dieses Verhältnis, das natürlich nur psychologisch gefasst werden kann, für die Ästhetik das ausschlaggebende. Es kommt gar nicht darauf an, dass ein Kunstwerk bestimmte Formen oder auch einen bestimmten Inhalt habe, sondern lediglich darauf, dass seine Form und sein Inhalt in einem bestimmten Verhältnis zu dem Bewusstseinsinhalt des Geniessenden stehe. Dieses Verhältnis muss derart sein, dass der spezifisch ästhetische Vorgang, d. h. die spezifisch ästhetische Lust erzeugt wird.

Nur unter dieser Voraussetzung erklärt sich auch die grosse Verschiedenheit der Kunstformen und des Kunstinhalts in verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern. Es scheint ja fast unmöglich, den Stil der ägyptischen Skulptur und der Barockplastik, der byzantinischen Mosaikmalerei und der holländischen Tafelmalerei, des japanischen Holzschnitts und des altdeutschen Kupferstichs auf ein und dasselbe ästhetische Prinzip zurückzuführen. Aber bei genauerem Hinsehen bemerkt man sofort, dass diese Verschiedenheit einfach auf der verschiedenen Vorstellung von der Natur beruht, die diese Künstler hatten. Die Ägypter fassten eben die Natur anders auf, hielten andere Dinge in ihr für wichtig als Bernini, und die Byzantiner hatten eine andere Vorstellung vom menschlichen Körper als die Holländer, die Japaner eine andere als die Deutschen des sechzehnten Jahrhunderts. Daraus geht aber nicht hervor, dass sie die Kunst in verschiedener Weise genossen, sondern nur, dass sie, um sie geniessen zu können, die Formen auf eine verschiedene Vorstellung von der Natur berechnen

mussten.

Ihre Naturauffassung war zwar eine verschiedene, darum konnte aber ihr Verhältnis zu dieser Naturauffassung doch dasselbe sein. Sie konnten sich alle in gleicher Weise bemühen, die Natur, wie sie sie im Kopfe hatten, darzustellen, den Eindruck des Lebens, wie sie es auffassten, zu erzeugen.

Ich glaube nicht, dass diese Auffassung sehr kompliziert ist, ich habe sogar die Überzeugung, dass schon mancher im stillen ähnliche Reflexionen angestellt hat. Jedenfalls sind sie bisher in der Ästhetik nicht mit der genügenden Schärfe hervorgetreten, da man immer wieder, trotz aller psychologischen Analyse, die Schönheit des Kunstwerks von einer gewissen Qualität des Inhalts und der Form abhängig gemacht hat. Es kommt also darauf an, nachzuweisen, dass Form und Inhalt der Kunst von jeher gewechselt haben, dass aber ihr Verhältnis zum Bewusstseinsinhalt der Menschen immer dasselbe geblieben ist, dass jede naive und wirklich gute Kunst diejenige Einwirkung auf das Vorstellungs- und Gefühlsvermögen der Menschen angestrebt hat, die mit dem Wort Illusion ausgedrückt wird.

Gelingt dieser Nachweis, so ist damit zugleich das Allgemeinmenschliche der Kunst, d. h. der ästhetische Gattungstrieb nachgewiesen. Denn in diesem Verhältnis des Inhalts und der Kunst zum Vorstellungsleben der Menschen spricht sich eben das Gesetzliche alles künstlerischen Schaffens und Geniessens aus. Wenn alle Kunst, insbesondere die der klassischen Perioden, dasjenige Verhältnis zur Natur und zum Leben, d. h. natürlich zu den Vorstellungen der Menschen von der Natur und vom Leben gehabt hat, durch das Illusion erregt wird, so ist dieses Verhältnis eben normativ. Das heisst jede Kunst muss, wenn sie gut sein, dem Wohl der Gattung dienen will, nach Illusion streben.

Weiter als bis zur Ermittelung dieses Gesetzes braucht die Ästhetik nicht zu kommen. Es wird sich sogar herausstellen, dass sie nicht weiter kommen kann. Insbesondere werde ich. zeigen, dass es ganz unmöglich ist, äussere Anhaltspunkte zu geben, nach denen beurteilt werden kann, ob ein einzelnes Kunstwerk gut ist oder nicht. Dies wird vielleicht manchem eine Enttäuschung bereiten, der von der Ästhetik Rezepte erwartet, wonach jedermann entscheiden könne, was in der Kunst schön und hässlich sei. Die Illusionsästhetik ist nicht in der Lage, diese Rezepte zu bieten, da sie ja das ästhetische Urteil im einzelnen Falle ganz von dem Bewusstseinsinhalt abhängig macht, in den sich das Kunstwerk ein

gliedert. Stimmt dieser mit dem des Künstlers überein, entspricht die Naturauffassung des Kunstwerks überhaupt der durchgehenden Naturauffassung einer bestimmten Zeit, so kommt die Schönheit des Kunstwerkes zum Bewusstsein. Entspricht er ihr nicht, d. h. ist er falsch oder lückenhaft, so ist alles umsonst, so wird kein Genuss zu stande kommen. Die Fähigkeit, Kunstwerke richtig zu geniessen oder zu beurteilen, ist also nach wie vor ein persönliches Können, eine persönliche Kraft, die man entweder hat oder nicht hat, die man aber durch Worte und Begriffe und Regeln niemals gewinnen kann.

Was so viele Kreise, besonders der Kunsthistoriker und Künstler, bisher gegen die Ästhetik eingenommen hat, ist, dass diese sich mit einer eigentümlichen Verbohrtheit der angedeuteten Erkenntnis verschliessen zu können glaubte. In dem müssigen Streben, objektiv genau zu formulierende Kennzeichen für das Kunstschöne zu finden, vergass sie, dass der künstlerische Genuss etwas ganz Subjektives ist. Immer klammerte sie sich an den Inhalt oder die äusseren zähl- und messbaren Formen, also an das mit dem Verstande zu erfassende logisch genau erkennbare Was und Wie der Darstellung und glaubte, das Geheimnis der Sphinx damit lösen zu können.

So kam sie denn zur Aufstellung von Gesetzen, die gar keine Gesetze, sondern nur der Ausdruck einer persönlichen Liebhaberei oder besten Falls Rezepte von beschränkter zeitlicher und nationaler Gültigkeit waren. So giebt es bis auf diesen Tag Ästhetiker, die der Meinung sind, die Kunst habe,,das Schöne" darzustellen, ohne sich klar zu machen, dass das Schöne in der Natur und in der Kunst zwei ganz verschiedene Dinge sind und dass man in verschiedenen Zeiten ganz verschiedene Dinge für schön gehalten hat. So giebt es bis auf diesen Tag Ästhetiker, die von Formen, Verhältnissen, Farben u. s. w. träumen, die an sich schön seien, wobei sie sich nicht klar machen, dass alle Formen im höheren Sinne nur schön sind in Bezug auf etwas, was sie bedeuten. Und wenn nun die moderne Kritik kommt und ihnen zeigt, dass das alles unhaltbar ist, weil der Vorstellungsinhalt fortwährend wechselt, so schliessen sie daraus, man wolle überhaupt keine Gesetze des künstlerischen Schaffens gelten lassen!

Der Einwand also, der immer wieder gegen die normative Ästhetik erhoben wird, dass die Kunst in fortwähreudem Flusse begriffen sei, immerwährend eine andere werde, dass jedes neu auf

tauchende Genie die bestehenden Regeln doch nur umwerfe, beweist durchaus nicht gegen die Möglichkeit normativer Feststellungen auf diesem Gebiete, sondern nur für die Notwendigkeit grösster Vorsicht bei ihrer Ermittelung.

Wenn Lessing die dramatischen Einheiten der Franzosen verwarf, bewies er damit etwa, dass es überhaupt keine Gesetze in der dramatischen Poesie gebe? Nein, er bewies nur, dass die dramatischen Einheiten der Franzosen keine solchen seien. Sie waren eben nur Rezepte, die dem Geschmack einer bestimmten national und zeitlich begrenzten Gruppe von Dichtern entsprachen, also natürlich für alle anderen Menschen keine bindende Kraft hatten. Wenn Brunelleschi und Donatello die gotischen Formen der Architektur und Plastik aufgaben und in einem neuen auf älteren Formen beruhenden Stil bauten, das Leben mit einem neuen und intimeren Naturgefühl darstellten, so bewiesen sie damit nicht, dass es keine Gesetze des Bauens und Bildens gebe, sondern nur, dass die Gesetze der Gotik einseitig seien, dass man auch mit anderen Formen künstlerische Wirkungen erzielen könne. Und wenn diese Formen zum Teil von den hergebrachten stark abwichen, so war das darin begründet, dass die Vorstellungen dieser Künstler und zum grossen Teil auch ihres Publikums von dem architektonisch Möglichen und von der Natur unter dem Einfluss der Antike und eines gesteigerten Naturstudiums andere geworden Ein anderer Vorstellungsinhalt verlangt aber natürlich

auch eine andere Kunst.

Die Gesetze, die diese grossen Bahnbrecher der Kunst bei ihrem Auftreten über den Haufen geworfen haben, waren also im Sinne einer wirklich haltbaren normativen Ästhetik gar keine Gesetze, sondern nur Rezepte, die von ihren Vorgängern irrtümlich für allgemeingültig gehalten wurden. Es ist aber der Lauf der Welt, dass jede Kunstrichtung sich von der unmittelbar vorhergehenden durch den Umsturz von Gesetzen unterscheidet, die in Wirklichkeit keine waren, die sich mit Unrecht diesen Titel angemasst hatten. Jüngere Künstler sind fast immer freisinniger als ältere, trauen der Kunst mehr zu, als sie nach den früheren Gesetzen eigentlich hätte leisten können. Dementsprechend sind auch jüngere Ästhetiker fast immer freisinniger und toleranter als ältere. Sie lassen viele Normen nicht mehr gelten, die jenen noch unumstösslich schienen, fassen die Normen durchweg in einem weiteren und beweglicheren Sinne auf.

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