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Beurtheilungen und kurze Anzeigen.

Zur Faustliteratur.

I) Dr. Karl Köstlin, Goethe's Faust, seine Kritiker und Ausleger. Tübingen, 1860.

II) F. Blanchet, le Faust de Goethe expliqué d'après les prin

cipaux commentateurs allemands. Paris, Strassbourg, 1860. Wieder liegen zwei neue Schriften über den Goethe'schen Faust vor. Das Gedicht ist in mehr als einer Beziehung merkwürdig, aber kaum weniger merkwürdig ist diese unermüdliche Ausdauer der Erklärer, diese immer sich wiederholenden Versuche eindringenden Studiums. Doch sind wir weit entfernt, die auf die Erklärung des Gedichts verwandte Mühe zu bedauern. Goethe's Faust verdient die aufmerksamste Betrachtung, und seine Dunkelheit fordert den Scharfsinn des Interpreten heraus. Fortgesetzte Arbeit aber fördert hier, wie auf jedem andern Gebiete. Das beweisen auch die beiden vorliegenden Werke durch den wohlthätigen Gegensatz, in welchem sie zu früheren Versuchen auf demselben Gebiete stehen. Die ersten Commentare des Faust nahmen auf guten Glauben das Gedicht als ein Ganzes hin, und da ihm jede andre Einheit sichtbar abging, so sollte ihm die Durchführung irgend einer abstrakten Idee oder die Systematik irgend einer Philosophie eine solche Einheit verleihen. Man legte also in naivem Glauben seine eignen Gedanken in das Gedicht und interpretirte so wacker in dasselbe hinein und aus demselben heraus ganze Systeme, jeder auf seine Weise und nach den Anschauungen, die er dazu mitbrachte. Dadurch, dass man so grosse Gedanken in dem Gedicht fand, gross mussten sie sein, denn man hatte sie ja selbst, glaubte man demselben eine ungemeine Ehre anzuthun und es zum Gipfel aller Dichtung zu machen; man bedachte nicht, dass Gedankensysteme wohl den Werth einer Abhandlung, aber nicht einer Dichtung begründen könnten, dass man vielmehr den Faust dadurch gradezu aus der Zahl der Gedichte strich. Wir wissen jetzt, dass das Gedicht kein System darlegt, aus wie verschiedenen Bestandtheilen, zu wie verschiedenen Zeiten es entstanden ist, welche verschiedenartigen Einflüsse und Stimmungen seine Gestaltung bedingt haben. Das Gedicht als eine Thatsache liegt vor, aber immer noch als eine so dunkle Thatsache, wie nur je eine dem Forscher zu denken gegeben hat. Es übt eine unbegrenzte Macht auf die Nation, und eine grosse Wirksamkeit selbst im Auslande. Worin also, wenn doch nicht im Gedankensysteme, besteht die eigentliche Macht dieser Dichtung? Die Antwort darauf hängt von der Erklärung des Gedichtes ab.

Die Erklärung eines Gedichtes hat drei wesentliche Momente. Es muss zunächst der Wortsinn und die Geschichte des Textes festgestellt

werden durch eine wesentlich philologische Arbeit; es fordert sodann die ästhetische Betrachtung die Reflexion über die innern gestaltenden Prinzipien des Kunstwerks, über das also, was man die Idee eines Kunstwerks zu nennen pflegt; es soll endlich jedem bedeutenden Dichtwerk seine literargeschichtliche Stellung zur Vergangenheit und Zukunft der Literatur und zu dem inneren Entwicklungsgange des Dichtergeistes, dem es entsprang, angewiesen werden. Diesen letztern Punkt haben diejenigen,

welche über Geschichte der deutschen Literatur und über Goethe's Leben schrieben, gründlich erörtert. Aber eine vollkommen befriedigende Lösung dieser Aufgabe hängt von einer befriedigenden ästhetisch-kritischen Betrachtung des Werks ab, wie sie noch nicht geliefert ist. Es ist nicht zum Vortheil der Erklärung des Gedichts gewesen, dass die philosophisch-ästhetische Betrachtung der philologischen Forschung vorauseilte. Die Philosophen glaubten eben auch hier, wie anderswo, der historischen Arbeit sich entschlagen zu können, und es passirte ihnen hier, was ihnen auch sonst wohl passirt ist: sie gaben statt der Sache sich selbst, und Faust wurde nur ein Anknüpfungspunkt für die Darlegung beliebiger Spekulationen aus dem Gebiete der Rechtsphilosophie oder Theologie in mehr oder minder systematischer Form. Schon Weisse und Leutbecher, besonders aber Meyer und mit grossem Fleisse Düntzer haben dann die rein philologische Arbeit für die Erklärung des Goethe'schen Faust so sehr gefördert, dass auch die ästhetische Kritik jetzt auf sicheren Grundlagen bauen darf. Sowohl Herr Köstlin, der besonders die ästhetische Würdigung des Werks im Auge hat, wie Herr Blanchet, der auch die Erklärung der Dunkelheiten im Einzelnen anstrebt, haben das so Gefundene gewissenhaft sich zu Nutze gemacht.

Was nun die Schrift des Herrn Köstlin anbetrifft, so ist sein Ziel nicht sowohl eine ausführliche Erklärung alles Einzelnen, als vielmehr die Darlegung der inneren Einheit des Gedichtes und die Feststellung seines ästhe tischen Werthes vermittelst einer Entwicklung des Ganges der Handlung in beiden Theilen des Werkes. Seine Darstellung ist klar und bestimmt, und in einigen Beziehungen scheint er die Erkenntniss dessen, was für die Beurtheilung des Faust wesentlich ist, in der That um ein Bedeutendes gefördert zu haben.

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Für das gesunde Urtheil des Verf. zeugt es, dass er das Werk nicht als den,,Inbegriff aller göttlichen und menschlichen Weisheit" fasst, wie die meisten älteren Schriften über den Faust, dass er alles nutzlos abstracte Philosophiren über denselben vollends verabschieden" will. Der Standpunkt, den er dem Gedichte gegenüber einnimmt, zeichnet sich am bestimmtesten darin, dass er p. 151 erklärt: nicht um eine Idee, sondern um einen Charakter, um ein allerdings die allgemeinsten und tiefsten Interessen der Menschheit berührendes Lebensbild sei es dem Dichter zu thun. Das ist ein wahres und treffendes Wort, was den ersten Theil anbetrifft. Aber für den zweiten Theil möchten wir es nicht eben so gelten lassen.

Das Geschlecht, das den Faust zuerst las, fühlte sich, wenn es sich von dem mächtigen Eindruck, den das Gedicht machte, Rechenschaft ablegen wollte, zumeist durch den Gehalt an spekulativen Ideen angezogen. In Wirklichkeit hat gewiss die Wirkung des Faust so wenig, wie die irgend eines andren grossen Dichtwerks, auf der Bedeutsamkeit abstrakter Theorien beruht. Aber es war das die Redeweise der damaligen Zeit, insbesondre die Form der ästhetischen Kritik, den Geist künstlerischer Schönheit auf „Ideen" zu ziehen. Wir bestreiten nicht, dass das Kunstwerk nur dadurch die Vollendung schöner Form erreicht, dass ein inneres, schöpferisch gestaltendes Prinzip als Einheit und Allgemeines die Gestaltung aller Einzelheiten bedingt. Wir meinen auch, dass „Idee" der treffendste Ausdruck für diese innere organische Einheit des Kunstwerks ist Nur verstehe man unter solcher Idee nicht irgend ein abstractes Philosophem oder gar eine beliebige moralische Sentenz. So weise eine solche auch sei, den innern Gehalt eines rechten

Kunstwerks wird sie nimmermehr erschöpfen, durch sie allein wird sich ein Werk nimmer als Kunstwerk ausweisen; im Gegentheil: wo sie der Zweck wäre, auf den Alles hinausläuft, würde augenblicklich durch die lehrhafte Absicht alle Poesie vernichtet werden. Die Idee eines dramatischen Dichtwerks, und von einem solchen ist hier zunächst die Rede, kann nur in der Einheit des Charakters, also näher in der eigenthümlichen Bestimmtheit der dichterischen Phantasie und ihrer sittlichen Anschauungen im Ganzen und Grossen, also in der Form des dargestellten Ideals liegen. Dem Faust gegenüber benahm man sich aber so, als ob er ein Lehrgedicht wäre voll tiefsinniger Theorien über göttliche und menschliche Dinge. Das war eine durchaus naive Stimmung. Allerlei, was im Geiste des spekulativ gebildeten Lesers beim Lesen des Gedichtes anschoss, legte man frischweg in das Gedicht selbst hinein, und noch mehr, in solchem sollte der eigentliche ästhetische Werth des Gedichtes liegen. Herr Köstlin hat dem Faust den Charakter eines Gedichtes zurückgegeben, als er denselben für die Darstellung eines Charakters erklärte, seinen Gegenstand als die Zeichnung eines Lebensbildes bezeichnete.

Aber, wie gesagt, wir möchten die Geltung dieses Satzes für den zweiten Theil bestreiten. Dieser in der That ist ein Lehrgedicht in dialogischer Form, und kein Drama. Und damit wären wir zu der heikelsten Frage in Betreff der Auffassung des Goethe'schen Faustgedichtes, zu der Frage über den Zusammenhang des ersten und zweiten Theils, gelangt. Wir wollen kurz unsre Meinung sagen: uns scheint, dass der erste und zweite Theil nichts mit einander gemein haben, als die Namen einiger in beiden auftretenden Persönlichkeiten und einige ganz ausserliche Anknüpfungspunkte in der Handlung. Weder die Charaktere, noch die Situationen, noch der innere Gang der Handlung, noch die dichterische Auffassungsweise, noch die poetische Composition scheinen uns in beiden Theilen in irgend einem tieferen Zusammenhange`zu stehen. Wir haben es in der That mit zwei ganz verschiedenen Gedichten zu thun, die auch der Zeit der Entstehung nach, wenigstens in der Form, wie sie vorliegen, durchaus auseinanderfallen. Ganz mit Unrecht hat sich der zweite Theil, ein in mancher Beziehung trotz schöner Einzelheiten so verfehltes Werk, ein Werk des unproductiven Alters, in die Nähe jenes wundervollen Products der Jugendbegeisterung und Manneskraft gedrängt; für die ästhetische Beurtheilung sind beide durchaus auseinanderzuhalten.

Das scheint uns nun Herr Köstlin verfehlt zu haben. Auch nach ihm bilden beide Theile zusammen ein Werk, und der ganze Plan scheint ihm grossartig, wahr, folgerichtig, harmonisch angelegt. Er giebt nur zu, dass in diesem Lebenslauf das Moment des Schönen unverhältnissmässig hervortritt und das Politische zurückgedrängt wird. Aber wie denn? Kann, wenn der erste und zweite Theil als ein Werk gefasst werden, kann dann noch der Charakter als inneres Prinzip der Einheit gefasst werden? Seit wann ist es ein Moment der Charakterschilderung, den Helden durch alle möglichen Lebenslagen und Tendenzen hindurchzujagen, ihn symbolisch sich verlieben, als Symbol mit einem Symbol sich verheirathen, symbolische Kinder zeugen zu lassen, die symbolisch sterben? Was fehlt denn noch zur Charakterschilderung des Faust am Ende des ersten Theils? Und welches neue Moment käme im zweiten Theile hinzu? Hat denn der Faust als Staatsmann und Feldherr, der Faust als Festordner am Hofe, der Faust als fränkischer Ritter und als lebensmüder Greis noch eine Aehnlichkeit mit Faust, dem Denker und dem Liebenden? Und wenn er sie hätte: heisst das Einheit des Charakters, dass ein Held auf seinem Wege von der Wiege bis zum Grabe uns vorgeführt wird, um alle möglichen Metamorphosen durchzumachen und die verschiedensten Gestalten anzunehmen? Nein, so wäre die Einheit des Gedichts immer nicht in einem Charakter, sondern in einem abstrakten Schema, in der Reflexion des Dichters zu suchen, der das Verhältniss eines

strebenden Geistes zu den bedeutsamsten Lebensbeziehungen darlegen wollte, und Faust wäre wieder nicht ein Drama, sondern ein Lehrgedicht. Der erste Theil des Faust aber ist ein wirkliches, ächtes Drama. Rauben wir ihm den Anspruch auf diese Bezeichnung nicht durch die auch philologisch ungerechtfertigte Annäherung des zweiten Theils: sondern überlassen wir, weil wir müssen, diesen zweiten Theil sich selbst, oder mit andren Worten: geben wir ihn als Ganzes und Eines Preis.

Dies Letztere nun, das eben möchte Herr Köstlin nicht. Zwar ist sein Urtheil auch hier besonnen und nüchtern. Er kann die Sprache des zweiten Theiles nicht loben. Die klassische Walpurgisnacht, die Tragödie Helena scheinen ihm ganz verfehlt. Aber gegen das schlechthin verwerfende Urtheil Vischers über den zweiten Theil möchte er doch Verwahrung einlegen. Nun ja, Vischer in seiner energischen, durchschlagenden Weise ist allerdings sehr hart mit dem Gedicht umgegangen, und wir möchten Bedenken tragen, das Urtheil des ausgezeichneten Mannes so ganz zu unterschreiben. Aber wollte man dem zweiten Theil gegen diesen eindringenden und kräftigen Geist beispringen, so gab es nur ein Mittel. Auch dem zweiten Theil ist es verhängnissvoll gewesen, dass er in eine Nähe zum ersten Theil gerückt wurde, auf die er keinen Anspruch hat, grade so, wie auch ein hellleuchtender Stern durch den Glanz der Sonne verdunkelt wird. Nicht bloss dem ersten Theil kann sein rechtes Verständniss nur gesichert werden, wenn man ihn als abgeschlossenes Kunstwerk in sich betrachtet: sondern auch gegen den zweiten Theil wird man weniger ungerecht sein, wenn man den Zusammenhang mit dem ersten aufgiebt. Wir möchten selbst des Herrn Verf. strenges Urtheil noch in einigen Beziehungen mildern. Man muss sich dieser Tragödie gegenüber nicht zum Einigen, sondern zum Zerreissen entscheiden. Der zweite Theil vor allem ist ein Stück, das wahrhaft aus Stücken besteht. Nur am Einzelnen wird man sich recht freuen dürfen: die Composition im Ganzen, die Haltung des Ganzen als eines einheitlichen Kunstwerks kann schwerlich als harmonisch und folgerichtig bezeichnet werden. Aber vieles Einzelne in seiner Art mag man gelten lassen, und darunter sogar die klassische Walpurgisnacht und die „Helena.“

Der zweite Theil des Faust zum ersten verhält sich etwa, wie Meisters Wanderjahre zu den Lehrjahren. In Schiller's Don Carlos erkennt Jedermann zwei nach Absicht und Auffassung wesentlich verschiedene Theile, weil Anfang und Vollendung des Drama's um wenige Jahre auseinanderliegen. Diese Verschiedenheit ist so gross, dass der ästhetische Eindruck und die künstlerische Einheit des Werkes dadurch wesentlichen Abbruch leiden. Beim Faust aber sind die erste Conception und der endliche Abschluss durch mehr Jahrzehnte getrennt, als durch Jahre beim Don Carlos. Und Goethe sollte so mumienhaft, so entwicklungslos geblieben sein, um ein Werk in gleichem Sinne durch sechszig Jahre fortzuführen? Oder von seinen mannigfachen inneren Prozessen, von der Verschiedenheit der Lebensalter, Anschauungsweisen, künstlerischen Prinzipien sollte dies Werk im Wesentlichen unberührt geblieben sein? Was den Gegensatz der Behandlung anbetrifft, so brauchen wir ihn nicht erst auseinanderzusetzen. Das blödeste Gefühl empfindet ihn. Gegen die Lebhaftigkeit der Empfindung im ersten Theil, gegen die übersprudelnde Fülle der Produktivität diese Knappheit der Motive, die sich nur an der Krücke der Reflexion müde fortschleppen; gegen lebensvolle menschliche Charaktere diese blassen allegorischen Schemen, die der Dichter gelegentlich selbst ironisirt; statt jener reichen und tiefen Anschauung_menschlichen Schicksals einen Abschnitt aus der Literaturgeschichte und der Politik in poetisch-allegorischem Gewande und eine neu erfundene Theorie der Erlösung und Rechtfertigung; es ist auch nicht eine Spur von Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit zu finden. Aber auch die Charaktere des ersten Theils sind verschwunden; nur die Namen sind zum Theil geblieben. Faust wird zum Abstractum und bedeutet stellenweise etwa:

der moderne Mensch, und stellenweise gar nichts. Und Mephisto? Wo ist der übermüthige, sprudelnde, geistreiche, bei aller Hassenswürdigkeit so anziehende Geselle geblieben, den wir im ersten Theile kannten? Verschwunden ist er, und unter seinem Namen narrt uns ein Ding, es lässt sich gar nicht sagen, was für eins, eine Art von redender Theatermaschinerie, die verschiedene Formen anzunehmen vermag. Weder der Satan ist mehr da, noch sein Humor. Zu allen guten Dingen lässt er sich gebrauchen; er ist nicht mehr der Verführer, sondern ein gehorsamer Diener ohne eigenen Willen zum Guten oder Bösen. Und was die Handlung anbetrifft: kann man ernstlich von dieser noch im zweiten Theile reden? Es bedeutet ja alles etwas, nur mit Begriffen sehen wir im Grunde etwas vorgehen, und nichts hat seinen Sinn in sich, nimmt baare Wirklichkeit für sich in Anspruch. Im ersten Theile Menschenschicksal und Leidenschaft, grosse tragische Conflikte; im zweiten ein blosses witziges und scharfsinniges Spiel mit Begriffen und Vorstellungen, wo unser Mitleid und Mitempfinden in keinem Augenblicke in's Spiel kommt. Was ist hier noch von einem Drama übrig geblieben?

Man hat es also mit zwei grundverschiedenen Werken zu thun. Ueber Sinn und Bedeutung des Ganzen wird man sich so lange nicht einigen können, als man den zweiten Theil als legitime Fortsetzung des ersten ansieht. Weil der zweite Theil so offenbar die Einheit seiner Composition nur in abstrakten Reflexionen hat, wird man geneigt sein, auch dem ersten Theil ein solches System von Gedanken unterzuschieben und ihm damit seinen poetischen Werth zu rauben. Wenn der Dichter am Schluss des zweiten Werks ängstlich bemüht gewesen ist, den Zusammenhang mit gewissen Motiven des ersten wieder anzuknüpfen, so hat er offenbar zu dem Irrthum Anlass gegeben: aber nichts desto weniger bleibt es ein Irrthum. Sätze, wie der, dass ein guter Mensch sich nie ganz vom rechten Wege abwende trotz aller Abirrung, oder dass Streben und Irren nothwendig verbunden seien, oder dass jedes ernste und beharrliche Streben die Erlösung möglich mache, könnten, auch wenn sie minder falsch wären, die Einheit eines Gedichtes nicht begründen, eben weil sie abstrakte Sätze sind. Wenn aber Goethe an die Bedingung der Wette zwischen Faust und Mephisto, dass Faust diesem erst gehören solle, wenn er in irgend einer Weise durch ihn eine volle Befriedigung erlangt hätte, den Ausgang seines Werks knüpft, so darf uns auch das nicht täuschen. Es ist offenbar, dass Goethe, als er jene Vertragsscene dichtete, nur an die Unmöglichkeit der Erfüllung dachte und jene ganz äusserliche Befriedigung, die er dem Greise später zu Theil werden lässt, auch nicht von fern ahnte.

Haben wir es also mit zwei verschiedenen Kunstwerken zu thun, so bedingt jedes für sich ein eignes Urtheil. Der erste Theil bedarf keiner Lobsprüche. Manches Fremdartige mag in demselben stören; die literarischen Anspielungen, manche Episoden mag man im Einzelnen hinwegwünschen; in manchen Punkten mag eine Inkonsequenz nachweisbar sein. Nichts desto weniger bleibt das Ganze ein Werk von unvergleichlicher Gewalt und Bedeutung. Als ein Werk der frischsten übersprudelnden Genialität erscheint der erste Theil des Faust grade unter dem Gesichtspunkt des Herrn Köstlin. Es sind die Charaktere, Figuren von einziger Vollendung, und nicht irgend welche Theorien, die den Reiz des Werkes ausmachen. Es ist die wunderbar erzählte Geschichte eines menschlichen Innern, die in einziger Vollendung gezeichnete tragische Verwicklung, in welcher die herrlichsten Individuen untergehen, was uns immer wieder anzieht. Faust und Mephisto, Wagner und der Schüler, Margarethe, Marthe und Valentin: diese Gruppe von Characteren bildet den Werth des ersten Theils, und die Geschichte, die sich vor unsren Augen entfaltet, könnte nicht reicher an Inhalt sein. Es ist aber eben ein Theaterstück, wie andre auch. Man könnte es die Kindesmörderin" betiteln. Die verzweifelnde Sehnsucht eines nach absolutem

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