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Giebt es im Italienischen Diphthongen?

Wunderlicher Weise immer noch eine offene Frage. Die Einen beantworten sie mehr oder weniger schüchtern mit Nein, die Andern zählen ein ganzes Heer von Diphthongen auf. L. G. Blanc, sonst der gründlichste unter den neueren Bearbeitern der italienischen Grammatik, der hier also seine Vorgänger mit vertreten möge, giebt folgende 20 an:

ae, ai, ao, au

ea, ee, ei, eo, eu

oa, oe, oi

ia, ie, io, iu

ua, ue, ui, uo

darunter, wie man sieht, sogar ee; bei Valentini finden wir auch ii (píi); für oo, das Blanc ohne Grund abweist, liessen sich ebenfalls Beispiele anführen (cooperare, coorte), so dass wir 22 hätten.

Und nun die Erklärung? „Diphthongen sind (heisst es bei Blanc) zwei oder mehrere Vocale, welche in der Aussprache zwar verbunden, aber nicht ganz verschmolzen, zusammen nur Eine Sylbe bilden." (Grammatik S. 73). Ungefähr so lautet

es überall.

Das ist statt eines Gesetzes die (noch dazu schwankende) Angabe eines blossen Merkmals - eines Merkmals von so oberflächlicher Beschaffenheit, dass man es noch bei einer weit grösseren Anzahl von Vocalverbindungen anzutreffen vermeinen kann. Jagemann, der unter den älteren deutsch-italienischen Grammatikern doch auch einen beachtenswerthen Rang einnimmt, gesteht ganz offen, die Italiener hätten der Diphthongen fast so

Archiv f. n. Sprachen. XXIX.

viele als die Fälle sind, wo die fünf Selbstlauter vor oder nach einander in eine Sylbe gesetzt werden können, und führt an, Salviati (ein italienischer Grammatiker des 16. Jahrhunderts) zähle ihrer 49, ja neunundvierzig!

Merkwürdig! Kommen doch dieselben Zusammenstellungen von Vocalen auch in der lateinischen Sprache - der Mutter der italienischen und noch häufiger in der griechischen vor; aber noch ist kein Grammatiker dieser Sprachen darauf verfallen, dergleichen für Diphthongen anzusehen. Die Bearbeiter der antiken Sprachen haben stets das Bewusstsein gehabt, dass der Diphthong etwas Andres ist als ein blosses (oft ganz zufälliges) Beisammenstehen zweier Vocale oder gar mehrerer, wie Blanc und Andere hinzusetzen; die der romanischen dagegen (denn in der spanischen und französischen Grammatik stossen wir auf dieselbe Erscheinung) haben sich nie und nirgend auch nur die Frage vorgelegt, ob der Diphthongbildung nicht ein bestimmtes Gesetz zu Grunde liege, geschweige denn dass sie diesem Gesetze nachgeforscht hätten, ungeachtet ihnen die antike Grammatik wenigstens das Material dazu an die Hand geben konnte.

Die Diphthongbildung beruht wesentlich auf den Unterschieden und Verhältnissen der Vocale zu und gegen einander. Nimmt man die Vocale freilich, wie in der Grammatik der romanischen Sprachen noch immer geschieht, nach der zufälligen, keinem Gedanken entsprechenden Ordnung, welche sie im Alphabete haben: so kann aus einer Kenntnissnahme ihrer gegenseitigen Verhältnisse nicht viel werden. Ihre Beschaffenheit weist ihnen eine andere Ordnung an. Sie bilden folgende von der Tiefe zur Höhe fortschreitende Tonreihe:

UOAE I.

A bezeichnet den vollen, ungetrübten Klang der Stimme, so wie er bei vollkommener Oeffnung des Mundes ertönt. O klingt tiefer, E höher als A; dabei zieht sich der Mund dort in seinem vorderen, hier in seinem hinteren Theile um Etwas zusammen. Diese Zusammenziehung weiter fortgesetzt vertieft das O zu U, erhöht das E zu I. Eine noch weiter gehende Zusammenziehung aber führt zu einer völligen Schliessung einerseits des Lippen-, andrerseits des Kehlorgans, und mit unterdrückter Stimme lässt

sich nun das U als V, das I als J vernehmen. Das heisst, die Vocalreihe wird an ihren Enden consonirend; U und I sind nicht mehr reine Vocale, sondern consonische, im Uebergange zur Consonanz begriffene. Daher galten in der altrömischen Schrift, woran ich zum Ueberfluss erinnere, die Buchstabenzeichen Vund I sowohl für den vocalischen wie für den consonischen Laut, und selbst die ältere deutsche Schrift zeigt ihr w und i noch da, wo nachmals u und í eingeführt worden; ja noch heute sehen wir z. B. Jagd und Insel mit demselben I gedruckt.

Reine Vocale sind also nur O, A, E. Lassen sich irgend zwei derselben zu einem Ganzen vereinigen? Welche Frage! Eben darin besteht ihre Reinheit, dass sich jeder für sich behauptet, jeder den andern abstösst. In der antiken Grammatik gilt mit Recht die Anschauung, dass ein Vocal, dem ein andrer vorangeht, Vocalis pura sei, d. h. dass zwischen beiden nicht Gemeinschaft, sondern Trennung herrsche und die Stimme zwischen ihnen absetze. Das bekannte den Unterschied verwischende Hinübergleiten der Stimme aus einem Vocal in den andern ist eine Art der Aussprache, die überall (auch in den romanischen Sprachen) als unedel und nachlässig verworfen wird. Aber selbst wenn man sie zuliesse, da diese Möglichkeit einmal vorhanden ist: so ist doch so ein blosses Zusammenschleifen zweier Vocale immer noch keine Diphthongirung. Höchstens kann eine Zusammenziehung daraus hervorgehen, die dem einen Vocal schliesslich das Uebergewicht über den andern verschafft, wie wenn griech. κέαρ in κῆρ, άεθλος in ἆθλος, τιμάομεν in τιμῶμεν, oder lat. coăgo in cōgo verwandelt, oder franz. taon wie tôn, paon wie pân, Caen wie Cân gesprochen wird.

Folglich sind von den obigen 20 Diphthongen zunächst diejenigen sechs zu streichen, welche aus O, A, E gebildet sind, also:

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Betrachten wir näher jedoch auch noch die Beispiele, die Blanc dazu giebt. Mit Valentini*) unterscheidet Blanc hierbei die

*) Siehe dessen: Gründliche Lehre der italienischen Aussprache, Skansion und Betonung. Berlin, 1834.

Fälle, wo entweder der erste oder der letzte der beiden Vocale oder auch keiner von beiden betont ist. Doch hält er, gegen Valentini und seine übrigen Vorgänger, nur in letzterem Falle, also bei gänzlicher Tonlosigkeit den Diphthongen für einen vollkommenen, wahrscheinlich (denn er selbst giebt keinen Grund an) weil in diesem Falle das oben erwähnte Zusammenschleifen beider Vocale am Leichtesten vor sich geht. Die Betonung ist allerdings ein wirksamer Schutz dagegen, und deshalb (wahrscheinlich doch deshalb) soll der Diphthong minder vollkommen sein, wenn der Ton auf dem ersten Vocal ruht. Ruht er gar auf dem letzten: so will Blanc nur noch einen unächten Diphthongen oder eigentlich gar keinen mehr darin erkennen. Seine übrigens gut gewählten Beispiele sind also folgende:

vollkommene.

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Die „unächten“ Diphthongen sollen also nur darum unächte oder nach Blanc eigentlich gar keine mehr sein, weil sie den zweiten Vocal betonen. Aber die Beispiele sind von dreierlei Art; 1) solche, welche in Ansehung der fraglichen Vocale unverändert aus der lat. oder griech. Sprache aufgenommen

worden: aorta doorý, cloaca cloaca, Laerzio Дatoτns, alveare alvearium, Briareo Briareo (Dat. von Briareus), Eolo Aeolus, geometra geometra, leone leo, neofito vɛoqútos. Die alten Sprachen betrachten die besagten Vocale weder hier noch sonst irgend wo als Diphthongen. Was macht sie denn, nach der gewöhnlichen Meinung, in der ital. Wortform dazu? Oder warum sollen sie, nach Blanc's Meinung, bloss durch den Accent aus einander gehalten werden? 2) Solche, welche zwischen den fraglichen Vocalen ursprünglich einen Consonanten zeigen: saetta sagitta, maestro magister, reale regalis, Boemia Bohemia (Bojohemia, Böheim), so dass die Vocale deutlich ganz verschiedenen Sylben angehören. 3) Solche, welche an der bezüglichen Stelle zusammengesetzt sind: traodo Präsens von udire mit der Präposition tra (trans), proavo avus mit der Präposition pro, coagolo coagulo ist auf con-ago (coago, cogo) zurückzuführen, aempiere wird auch adempiere geschrieben, d. i. empiere mit der Präposition ad (adimplere), coevo coaevus, aus con und aevum, so dass man es darin nicht nur mit verschiedenen, Sylben, sondern mit ganz verschiedenen Bestandtheilen des Wortes zu thun hat. Wie kann man da nur im Entferntesten an Diphthongen denken, sei es auch nur ablehnend! Beone (Trunkenbold) zeigt in ähnlicher Weise die Ableitungsendung one neben dem Stamme be (bere, aus bevere, bibere, verkürzt).

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Dieselben Erscheinungen liegen in den übrigen Beispielen vor uns, mögen sie vollkommene" oder „minder vollkommene" Diphthongen aufweisen sollen. Denn 1) die antiken beatissimus, linea, Boreas, aeneus, idoneus, geometria, oaois, oceanus, alveolus zeigen die bezüglichen Vocale ganz eben so, aber noch heute sieht Niemand Diphthongen darin; in aër, poëma wird die Trennung (gegen aes, poena) ausdrücklich bezeichnet. 2) Trahere hat ein h zwischen ihnen, das der Italiener bekanntlich ein für alle Mal abweist; sagittare trennt sie durch sein g; für paonazzo schreibt man auch pavonazzo (wie für das Grundwort paone auch pavone, lat. pavo), und dass neben Mantoa, Genoa, Roano auch Mantova, Genova, Rodano geschrieben werde, bemerkt Blanc selbst; paesano stammt von paese lat. pagus, pagense. 3) In beano, sei es das Präs. Ind. von beare (lat. beare beglücken) oder das Präs. Conj. von bere (bevere, bibere, trinken)

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