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HARVARD

COLLEGE

JUL 8 1912

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Mary Osgood fund

Vorwort.

Das vorliegende Buch ist eine Recapitulation aus einer mehr als dreißigjährigen Lebenserfahrung; zunächst dem Wunsche entsprungen, für mich und die Meinigen aus den neueren deutschen Dichtungen geringeren Umfangs das zusammenzustellen, was daraus während jenes langen Zeitraumes meine besondere Theilnahme erregt hat und derart in mir haften geblieben ist, daß ich jezuweilen dahin zurückgekehrt bin.

Es ist dies nicht immer das Schöne, sondern ebenso sehr das Charakteristische; das Häßliche nicht ausgeschlossen, wo es sich, wie z. B. in Hebbels, übrigens auch durch eine mächtige Naturstimmung getragenen, „Haideknaben“ durch lebendige Gestaltung ein Recht zur Existenz erworben hat; es ist zwischenein auch wohl das Hausbackene, sofern darin ein warmes Stück Menschenleben und dann gelegentlich und wie von selbst auch ein Stück Poesie zum Vorschein kommt, wie das in einzelnen Idyllen von Boß und in den Gedichten des alten Pastors von Werneuchen der Fall ist, für welchen Leßteren ich eine gewisse heimliche Liebe nicht sowohl trot, sondern vielmehr urkundlich jener anmuthigen

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Parodie*) mit unserm Altmeister Göthe zu theilen glaube; es ist ferner, wenn auch vorzugsweise, so doch nicht allein das in der Ausführung Makellose, sondern auch das, wo die zwingende Gewalt des Ganzen die einzelnen Mängel derselben vergessen läßt; endlich sind es nicht grade die Behandlungen großer Stoffe, zumal nicht jene aus mythologischen, historischen oder ethnographischen Studien zusammengearbeiteten Dichtungen, in denen wir zwar die Größe des Wollens auch wohl des Anspruchs nicht verkennen können, die aber wegen der unzulänglichen Zeugungskraft ihrer Verfasser dennoch todtgeborene Dinge bleiben; sondern es find lieber solche, in denen der wenn auch weniger große Stoff „mit urkräftigem Behagen“ zur Erscheinung fommt. Da das Buch einen rein kritischen Standpunkt einnimmt, so waren von vorn herein alle Gedichte ausgeschlossen, welche die Bedeutung, die ihnen etwa zuzugestehen ist, nicht in, sondern neben sich haben; somit alle, welche nur in Bezug auf die Entwicklung unserer Literatur oder als Illustrationen, sei es zur allgemeinen Geschichte oder zu der Biographie ihrer Verfasser, eine solche in Anspruch nehmen fönnen.

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Die Phrase wird hoffentlich in diesem Buche keine Stätte gefunden haben; mindestens im Wesentlichen nicht, wie ich Vorsichtshalber hinzuseßen möchte; denn was wäre durchweg frei von dieser weltbeherrschenden Krankheit!

Fragt man nun aber, woher bei der Fluth von Anthologieen auch noch diese sich das Recht nimmt, in die Welt zu treten, so erwidere ich Folgendes:

Obgleich sich Niemand davon frei sprechen dürfte, daß er

Das Gedicht: „Musen und Grazien der Mark".

nicht einmal vorübergehend oder im Einzelnen auch dem Unberechtigten einen Platz eingeräumt hätte, so scheint mir doch in fast allen Anthologieen, so weit sie mir vor Augen gekommen. sind, die Mittelmäßigkeit einen unverhältnißmäßigen Raum einzunehmen. Zwar ist in der Poesie vielleicht in jeder Kunstdie Fähigkeit des Urtheilens kaum weniger selten, als die des Schaffens; allein auch wo die Auswahl voraussetzlich von nicht unbefugter Hand herrührt, pflegt es damit nicht besser zu stehen.

Die Ursache hiervon dürfte, abgesehen von einem Streben nach äußerer Vollständigkeit, zum Theil in der Macht des Erfelges zu suchen sein.

Jede Literatur-Epoche wird bekanntlich von einer Schaar von Anempfindern und Nachahmern begleitet, welche, so lange dieselbe dauert, gleich den Grillen im Sommer nach Kräften in dem großen Concerte mitsingen, um dann mit ihrem Ende spurlos zu verschwinden. Ebenso ist es aber eine gleicherweise alte und neue Erfahrung, daß manche dieser Mitsänger, während ihr Sommer dauert, ein Publikum, ja oft ein größeres als die echten Sangesmeister finden und so ihre vorübergehende Existenz durch eine Reihe von Auflagen zu documentiren vermögen. Ven diesem Punkte scheint mir der mechanische Druck auszugehen, durch welchen, zum nicht geringen Verderb, grade die am meisten in den Familien eingebürgerten Sammlungen *) mit jenen farblosen Versificationen angefüllt sind, von denen aus jedem mäßzigen. Gefühl ein Dußend gemünzt werden könnte, gegen die sich aber freilich nichts einwenden läßt, als daß sie eben nichts bedeuten. — Dem entgegen zu treten, soll dieses Buch einen Versuch machen.

* Ich spreche nicht von denen, die literärhistorische Zwecke verfolgen oder von den zum Schulgebrauch bestimmten Sammlungen,

Die Sammlung beginnt mit Claudius, der in einer Zeit, wo sowohl die poetische, als die musikalische Lyrik in Deutschland sich in conventionelle Thee- und Kaffeeliedchen verloren hatte, zuerst den unmittelbaren Ausdruck der Empfindung, namentlich, und bis jezt kaum übertroffen, der Natur-Empfindung wiederfand; der, bevor ein solcher Ton von Göthe laut geworden, sein Neujahrslied anhub:

„Es war noch frühe Dämmerung
Mit leisem Tagverkünden,
Und nur noch eben hell genung,
Sich durch den Wald zu finden;
Der Morgenstern stand linker Hand,
Ich aber ging und dachte

Im Eichthal an mein Vaterland,
Dem er ein Neujahr brachte.“

und sein von Naturgefühl getränktes keusches Wiegenlied beim Mondschein" gedichtet hatte, das dieses Buch der Vergessenheit zu entreißen sucht *).

Zur näheren Verdeutlichung des Gesichtspunktes, von welchem aus die vorliegende Sammlung entstanden ist, sei es mir verstattet, noch einige Bemerkungen vorauszuschicken.

Wie ich in der Musik hören und empfinden, in den bildenden Künsten schauen und empfinden will, so will ich in der Poesie, wo möglich, alles Drei zugleich.

Von einem Kunstwerk will ich, wie vom Leben, unmittelbar und nicht erst durch die Vermittlung des Denkens berührt

*) Die Scala_reicht freilich noch tiefer „Fülleft wieder Busch und Thal“ (Göthe), „Der Mond ist aufgegangen“ (Claudius), „Nun ruhen alle Wälder" (Paul Gerhard).

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