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werden; am vollendetsten erscheint mir daher das Gedicht, dessen Wirkung zunächst eine sinnliche ist, aus der sich dann die geistige von selbst ergiebt, wie aus der Blüthe die Frucht. Der bedeutendste Gedankengehalt aber, und sei er in den wohlgebautesten Versen eingeschlossen, hat in der Poesie keine Berech tigung und wird als todter Schatz am Wege liegen bleiben, wenn er nicht zuvor durch das Gemüth und die Phantasie des Dichters seinen Weg genommen und dort Wärme und Farbe und wo möglich körperliche Gestalt gewonnen hat. An solchen todten Schäßen sind wir überreich.

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Die Lyrik insbesondere anlangend, so ist nach meiner Kenntniß unserer Literatur, die Kunst „zu sagen, was ich leide“, nur Wenigen, und selbst den Meistern nur in seltenen Augenblicken gegeben. Der Grund ist leicht erkennbar.

Nicht allein, daß die Forderung, den Gehalt in knappe und zutreffende Worte auszuprägen, hier besonders scharf hervortritt, da bei dem geringen Umfange schon ein falscher oder pulsloser Ausdruck die Wirkung des Ganzen zerstören kann; diese Worte müssen auch durch die rythmische Bewegung und die Klangfarbe des Verses gleichsam in Musik gesetzt und solcherweise wieder in die Empfindung aufgelöst sein, aus der sie entsprungen sind; in seiner Wirkung soll das lyrische Gedicht dem Leser — man gestatte den Ausdruck — zugleich eine Offenbarung und Erlösung, oder mindestens eine Genugthuung gewähren, die er sich selbst nicht hätte geben können, sei es nun, daß es unsre Anschauung und Empfindung in ungeahnter Weise erweitert und in die Tiefe führt, oder, was halb bewußt in Duft und Dämmer in uns lag, in überraschender Klarheit erscheinen läßt.

Am ärmsten scheint mir unsre patriotische und sogen.

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politische Lyrik. So unzweifelhaft es ist, daß das Leben in Staat und Gemeinde ein ebenso berechtigter Gegenstand für die menschliche Empfindung und daher für die Lyrik ist, als das Einzel- oder Familienleben, so ist es hier, wie in der Natur dieser poesis militans liegt, doch weit seltener gelungen, den Stoff von dem Boden der bloßen Wirklichkeit abzulösen und andrerseits sich nicht an rhetorischer Phrase und Bildermacherei genügen zu lassen. So kommt, um Beispiele anzuführen, Uhland's „Wenn jetzt ein Geist herniederstiege" — abgesehen von dem selten schönen Anfang und Ende faum über eine poetisch gefärbte Kammerrede hinaus; so ist neuerdings von den vielen Gedichten für meine Heimath Schleswig-Holstein auch nicht eins zu einer irgend in Betracht kommenden Innerlichfeit gelangt.

Wenn wir auch, was Dingelstedt in Bezug auf die Zeit nach Uhland, Rückert und Heine in seiner Gedichtsammlung von 1858 ausgesprochen,

„Die Lyrik, unser alter Stolz und Halt,

Wird nicht mehr jung, die jüngste niemals alt."

nicht mögen gelten lassen, sondern sogar durch diese Sammlung zu widerlegen hoffen, so ist doch nichts unrichtiger, als die von A. Meißner aufgestellte Parallele:

„Im Gartenteich wird nie ein Schiffer scheitern,

Im kleinen Liede kein Poet erliegen."

Denn gilt es dabei auch nicht einen Berg zu verseßen, so gilt es doch eine Perle zu finden, und nur wenige Muscheln haben Berlen.

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Heine sagt sehr richtig: Ein Lied ist das Kriterium der Ursprünglichkeit." Die meisten unserer sogenannten Dichter aber sind ihrem eigentlichen Wesen nach Rhetoriker mit mehr oder minder poetischem Anstrich und der lyrischen Kunst so gut wie ganz unmächtig.

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Die Auswahl selbst anlangend, so ist sie bei den älteren Dichtern, deren Werke jezt in Aller Händen sind, eine verhältnißmäßig beschränktere; bei einigen wenig bekannten dagegen, auf welche dieses Buch aufmerksam zu machen wünscht, eine verhältnißmäßig weitere. Wo die Fassung von den bisherigen Drucken abweicht, beruht dieß auf handschriftlicher Aenderung der Verfasser. Was ich von Eigenem beifügen zu müssen gemeint habe, möge seinen Platz zwischen dem Uebrigen selbst zu behaupten suchen.

Bei der Revision der Sammlung sind an literärhistorischen Werken von mir benußt: Deutsches Lesebuch von W. Wackernagel, Thl. 2; Elf Bücher deutscher Dichtung von Karl Gödeke; Deutschlands Dichter von 1813 bis 1843 von demselben; poetischer Hausschaß des deutschen Volkes von O. L. B. Wolff; die Deutschen Dichter der Neuzeit von Ignaz Hub; Deutsche Lyriker seit 1850 von E. Kneschke; Geschichte der deutschen Literatur von Heinrich Kurz; von den vorhandenen Anthologieen insbesondre: Deutscher Dichterwald von Georg Scherer, welche in Betreff der lebenden Dichter auch als Selbstanthologie der Verfasser ein besonderes Interesse beanspruchen

fann.

Möge nun dies Buch dazu helfen, eines Theils auch dem größeren Publicum einen Maaßstab für poetische Leistungen

in die Hand zu geben; andern Theils diejenigen mit unserer Lyrik wieder zu befreunden, welche der ungeheuere Wust des Nichtigen von dieser Dichtungsart zurück geschreckt hat; und möge endlich nicht verkannt werden, daß wie die Arbeit, so auch das Verdienst dieses Buches, insoweit es ein solches beanspruchen fann, zum großen Theil in dem zu suchen ist, was dasselbe nicht enthält.

Husum, 7. Juni 1870.

Th. St.

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