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innerhalb des einfachen Wortes beinahe immer die Stammsilbe stärker als die übrigen Silben; wer nun mit dem Deutschen vertraut ist, weiss in den meisten Fällen den Stamm als solchen zu erkennen; obgleich unsere herkömmliche Orthographie in Wortbildern wie begeben über die dynamischen Verhältnisse keinerlei Auskunft giebt, entsteht trotzdem nur in den seltensten Fällen ein Zweifel darüber was Stammund was Nebensilbe ist. Drittens haben wir nur in schwachen, die übrigen Vokale meistens nur in starken Silben; die genaue Darstellung des Klanges macht also gewöhnlich auch die Tonsilbe dem Auge kenntlich. Viertens kommen in schwachen Silben selten lange Selbstlauter vor; unser Längezeichen wird also in den meisten Fällen auf die Betonung hinweisen. Von einem dringenden Bedürfniss nach Akzentbezeichnung kann also nicht entfernt die Rede sein. Soll übrigens eine solche angewendet werden, so genügt es der Wissenschaft durchaus nicht, bloss die dynamischen Verhältnisse innerhalb des vereinzelten Wortes kenntlich zu machen, sondern sie muss auch diejenigen innerhalb mehrwortiger Sätze berücksichtigen; daran wird meistens gar nicht gedacht. Auch handelt es sich darum zugleich eine Bezeichnungsweise der Schallstärke aufzustellen welche geeignet ist die in unsern Lehrbüchern der neuhochdeutschen Metrik immer noch grassirenden Kurzlangschemata zu verdrängen.

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§ 30. Die in den Sätzen VI bis XII vorgeschlagene Schreibung reicht aus für die dringendsten Forderungen der Wissenschaft; hat man sich in diesen Punkten geeinigt, so werden die übrigen, welche man in Frommanns deutschen Mundarten Bd. VII, S. 313-315 besprochen findet, wenig Schwierigkeiten mehr machen. Das ganze System ist bis in seine kleinsten Theile nach allen Seiten hin reiflich durchdacht; die Lauttheorie auf welcher es beruht, habe ich ausführlich erörtert in Reicherts und du Bois-Reymonds Archiv für Anatomie und Physiologie (1873, S. 449-477), in meiner Rezension von Sievers' Grundzügen der Lautphysiologie (Steinmeyers Zeitschrift für deutsches Alterthum 1877, Anzeiger III, S. 1-22) und in meinem Buche „Zur Lautverschiebung". Noch sei bemerkt dass wenn auch zunächst die Bedürfnisse der deutschen Dialektologie ins Auge gefasst worden, die

* Ebendaselbst (S. 315-330) habe ich vor den Fehlern gewarnt welche gewöhnlich bei dialektischen Beobachtungen begangen werden und auch die besste Orthographie wertlos machen.

vorgeschlagene Orthographie dennoch auf jede Sprache, also auch auf die romanischen Mundarten mit Leichtigkeit anwendbar ist.

Zum Schlusse wiederhole ich was man immer nicht genug wiederholen kann: soll in der wissenschaftlichen Orthographie irgend welche Einigung erzielt werden, so lasse man sich nicht durch beliebige Gewöhnungen und Zufälle leiten, sondern durch klare und wohlerwogene Vernunftgründe.

Alle Freunde der mundartlichen Forschung bitte ich dringend, meine Vorschläge einer eingehenden, unbefangenen Prüfung zu unterwerfen und deren Ergebniss zu meiner Kenntniss gelangen zu lassen. Jeder Ausdruck der Zustimmung, jede ausführlich begründete Verbesserung wird mir willkommen sein. Auf der 32. Versammlung deutscher Philologen im September 1877 zu Wiesbaden sollen die „Zwölf Sätze" zur Verhandlung kommen.

Saargemünd, im Februar 1877.

J. F. Kräuter.

Der deutsche Krieg von 1870-1871

im Volksliede.

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Volkes Stimme ist Gottes Stimme" dies alte Sprichwort hat sich in unseren Tagen wunderbar bewahrheitet. Als im Jahre 1849 der König von Preussen die ihm von Frankfurt aus angetragene Kaiserkrone ausschlug, da sang das Volk, wenn auch in unberechtigtem Unmuth gegen Friedrich Wilhelm IV., prophetisch und voll Zuversicht:

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Und nicht lange sollte es währen, da war der Kaiser nach seinem Herzen erstanden, der Kaiser, auf dessen Fahne des Volkes Wort sich geschrieben fand: „Mein Schwert mein Hort und Gott meine Burg," und jubelnd erscholl es:

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Vivat Hoch! in allen Landen,

Ruft ihr Deutschen allzugleich,

Denn der Kaiser ist erstanden

Und das neue deutsche Reich." *)

Und nochmals erhebt derselbe Prophet seine Stimme; zehn Jahre später, 1859, da heisst es in einem Liede:

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Und kaum begann im Jahre 1870 der Kaisermorgen zu tagen, erweckt durch die Stimme des neuen Uebermuthes von der Seine her

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,,Da singt der ganze Dichterhain:
Zum Teufel mit dem Mondenschein,
Mit Rosen, Kosen, Lust und Leid,
Mit Zagen, Klagen, Liebesstreit,
Nun schleift für unsrer Krieger Reih'n
Des deutschen Verses Edelstein.

„Und sieh', aus allen deutschen Gau'n,
So weit die deutschen Wogen blau'n,
Rückt auf beschwingtem Zelter an
Manch' lorbeerstolzer Sängersmann...

„Und mächtig rauscht's im Weltenall,
Wie Bardenton, zum Sonnenball:
Wir schwingen das Gedankenschwert
Und Schilder, unsrer Ahnen werth,

*) Dieses, sowie die meisten der nachfolgenden Lieder, sind entnommen der grossen Sammlung von Franz Wilhelm Freiherrn von Ditfurth: „Historische Volkslieder der Zeit von 1756 bis 1871", Berlin, Franz Lipperheide 1871-1872 auf die hier ein für alle Mal hingewiesen wird.

Wir steh'n vereint, dem Sang zum Schutz,
Dem deutschen Sang zum Schutz und Trutz." *)

Sofort fuhren wir an die Waffen, die Hände in die Saiten, und wie in alten Tagen, so stimmten auch jetzt in treuem Vereine „Leier und Schwert" die gemeinsame Weise an zu „,Schutz und Trutz" für's Vaterland: - Deutschland stand da, ein Volk in Waffen, ein Volk im Liede, und beides, auch das letztere, im wahrsten Sinne des Wortes: denn nicht bloss waren es die ,,lorbeerstolzen" Sangesritter, die auf dem Wahlplatze erschienen, nein, der „tönereiche" Drang ging durch alle Schichten des Volkes, und mit dem edlen Meister der Gesangeskunst erhebt auch der Volkssänger seine Stimme, und wenn auch manch' rauher, derber Ton aus seiner Kehle dringt, „an echt kernhafter, vaterländischer Gesinnung steht er jenem nicht nach, ja an liedlicher Flüssigkeit, an körnigem schlagfertigen Witz und Humor ist er ihm nicht selten voraus", und, was sein Hauptvorzug ist, in seinem Liede tritt die Zeitstimmung immer unmittelbar und unverfälscht und lebendig hervor. Denn die Volkssänger sind meistentheils selbst Theilnehmer der geschilderten Ereignisse, Soldaten auf der Wacht, wie sie sich uns öfters am Schlusse der Lieder als Verfasser darstellen, Landwehrmänner, die mitten im Kampfe gestanden und des Kriegers Freud und Leid an sich selbst erfahren, und was das für einen Unterschied macht, das können wir von jenem Volkssänger hören, der auf einsamem Posten in strömendem Regen und mit knurrendem Magen treuherzig ausruft:

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* Zu Schutz und Trutz" von R. Weisse in der trefflichen gleichnamigen Sammlung von Franz Lipperheide, 7. Lieferung, p. 43.

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