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Kenntniss des Altfranzösischen und seiner verwickelten Lautverhältnisse vom Ursprunge der Sprache an besitzen muss, um die Aussprache, welche im 16. Jahrhundert geherrscht haben kann oder geherrscht haben muss, mit einiger Sicherheit bestimmen und die Grammatiker dieser Zeit auch nur verstehen zu können, das ist Herrn W. bis auf den heutigen Tag noch nicht klar geworden. Wenn er daher in seiner Schrift gegen Diez polemisirt über Dinge, die in das Abc der französischen Philologie gehören, und wenn er neuerdings seine Recensenten auf hochmüthige Weise abkanzelt, so beweist er dadurch nur, dass er der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, jetzt noch eben so wenig gewachsen ist wie früher. Trotzdem darf man sich der Hoffnung hingeben, dass der streitbare Romanist von Plauen, wenn er über dem Streiten nicht das Studiren vergisst, in nicht allzuferner Zeit Herrn Schuchardt für seine milde Beurtheilung und unserem Protokollführer für die schonende Kürze seines Berichtes dankbar sein wird.

Oscar Ulbrich.

Miscellen.

Das deutsche Nationaldrama.

Ueber die Frage des deutschen Nationaldramas im Hinblick
auf das englische Nationaldrama der Shakespeare-Zeit macht
einer unserer Mitarbeiter, Herr Dr. J. Jacoby in Hamburg, in der „Neuen
Frankfurter Presse" nachstehende beachtungswerthe Bemerkungen.

Ein mächtiges Einheitsgefühl hebt und dehnt die Brust jedes Deut-
schen; nur der im römischen Religions-Treibhaus Erzogene, nur der eng-
brüstige Particularist vermag noch nicht deutsch zu athmen.

Sie werden es lernen müssen und sie werden es erlernen.

Bewusst oder unbewusst arbeitet der Einheitsdrang in der Masse des
Volkes, das deutsche Nationalgefühl ist realiter da seit dem Jahre 1870.

Frankreichs Hegemonie in Europa ist niedergerungen, der Geisteskampf
mit Rom begonnen, in dem Deutschland der freigesinnten Welt als Führer
voranschreitet. Unsere Kriegs- und Handelsflotte fährt auf den Weltmeeren,
die fernsten deutschen Brüder in Amerika und Australien fühlen sich stolz
als Deutsche; das Reich unterstützt Entdeckungsreisen zu See und Land, wir
können an überseeische Colonien denken.

Ist dieses unser neues Deutschland nicht ein Fresco - Bild, dessen Pen-
dant in der Weltgeschichte als ein kleineres, aber doch stolzes Gemälde,
jenes England bildet zur Zeit der ersten dichterischen Entfaltung Shake-
speare's.

England hatte damals eben erst das mächtige papistische Spanien
besiegt; es fühlte sich als Bollwerk des Protestantismus, als Vorkämpfer
einer neuen Zeit; es umspannte mit seinem Handel, seinen Entdeckungsfahr-
ten, seinen Colonisationen die ganze Erde.

Shakespeare lebte in der Zeit des nationalen Aufschwungs, des bewuss-
ten Nationalgefühls. Wir können uns rühmen, in ähnlichen Zeiten zu
leben.

Aber welch ein Gegensatz in der Literatur Englands vor ca. 280
Jahren und in unserer heutigen! Wenn das Epos dem Kindheits- oder
Greisenalter (Homer Virgil! die Gegensätze berühren sich!), die Lyrik
dem jugendlichen, das Drama aber dem Mannesalter zukommt, so scheint
das Mannesalter unserer Literatur, wenn man nur die heutige im Auge hat,
noch nicht gekommen zu sein. In der Lyrik und im epischen Gedicht
finden sich nationale Ansätze, denen freilich meist die wahrhaft künst-
lerische Sprungkraft fehlt, ja im Roman haben wir einen classischen Er-
gründer und Gestalter deutschen Lebens, Gustav Freytag, so dass wir in
diesen Gebieten, im Ganzen genommen, nationaler sind als die englischen
Dichter jener Zeit; aber im Drama!

Den Beherrschern der altenglischen Bühne gegenüber, den Greene, Mar-
lowe, Shakespeare, Ben Jonson, welches sind die Repertoire-Gewaltigen der

Gegenwart? Die französischen oder französirenden Dichter. Statt jener Dramen, in denen nationales Leben stolz und kräftig pulsirt, transfundiren wir fremdes, nicht ganz unverdorbenes Blut in den schwächlichen Körper unseres Drama.

Aber wie? Haben wir nicht eine bedeutende, ruhmvolle und nationale dramatische Literatur gehabt? Sind Lessing, Schiller, Goethe, Kleist weniger gewesen als jene Engländer? Und können wir nicht mit Stolz das Drama unserer classischen Zeit als nationales auch für unsere Tage in Anspruch nehmen, gerade so wie die Britten es mit dem Shakespeare'schen Drama thun.

Wir wollen uns die Antworten auf diese 3 Fragen durch die folgenden Betrachtungen zu gewinnen suchen.

Was zunächst die zweite Frage angeht, so wird sie unbedingt zu verneinen sein. Kein Besonnener, und sei er auch Nicht-Deutscher, wird den literarischen Werth der Shakespeare-Zeit über den unserer classischen Zeit setzen wollen, wird unsere Dichterheroen den englischen unterordnen.

Aber dies ist hier gar nicht die Hauptfrage. Es fragt sich nur: Haben wir eine nationale dramatische Literatur gehabt, sind Goethe, Schiller, Lessing, Kleist nationale Dramatiker gewesen, wie es jene Engländer waren?

Die Antwort ist bald gegeben. Nur eine Nation, nur ein nationaler Staat kann ein nationales Drama, nationale Dramatiker haben. Das sehen wir bei den Athenern, Spaniern, Britten. Bei den Franzosen kann man in Bezug auf das ernste Drama der „classischen Zeit“ nur von einem Drama des temporär nationalen Geschmacks reden, nicht von einem eigentlichen Nationaldrama. Zu einem ernsten Nationaldrama sind die Franzosen bis jetzt nicht gekommen. Das komische Nationaldrama ist bei ihnen hauptsächlich durch Molière vertreten.

Wo das Nationalbewusstsein nicht jeden Einzelnen durchdrungen hat, wo die nationale Einheit nicht realiter vorhanden ist, da ist kein Boden für das wahre Nationaldrama.

Deutschland zur Zeit Goethe's und Schiller's war keine Nation mehr. Das Band der politischen Einheit hing nur noch schlotterig um das Ganze herum, wurde bald auch de facto abgenommen. Sprache, Sitte, Religion, Denkweise trugen bei aller Verschiedenheit noch gemeinsame Grundzüge, der Traum vergangener deutscher Einheit und Grösse lag dem deutschen Michel noch in den Gliedern; viele der Edelsten des Volkes, Dichter, Philosophen, Gelehrte, Politiker fühlten ganz deutsch, hofften und erstrebten eine nationale Wiedergeburt; die Dichter gaben der träumenden Erinnerung der Massen, ihrer eigenen Sehnsucht Gestalt in der Dichtung, ja sie kamen einer nationalen Dichtung so nahe, wie es überhaupt bei den thatsächlichen Verhältnissen möglich war aber das Alles gab keine Nation und konnte keine nationale Dichtung, im eigentlichen Sinne, geben. Die nationale Einheit existirt nicht in der Wirklichkeit, ein National bewusstsein konnte es nicht geben, das National gefühl der Dichter selbst konnte diese Mängel nicht ersetzen. Die nationale Dichtung erfordert die Nation als Grundlage, nicht als erstrebtes und erträumtes Ziel.

Es ist interessant zu verfolgen, wie sich unsere grossen Dramatiker diesem Grundmangel gegenüber verhalten.

Lessing sucht die Deutschen auf literarischem Gebiet selbständig, national zu machen, die Idee eines „Nationaltheaters" beschäftigt seinen rastlosen Geist; von Friedrich dem Grossen erhoffte er anfangs den mangelnden politischen Boden: es war noch viel zu früh. Nur der literarischen Selbständigkeit hatte er die Wege gebahnt. Durch sein Jugend-Meisterwerk: Minna von Barnhelm, geht der politische Athem; Die Thaten des Preussenkönigs bilden den Hintergrund.

Schiller und Goethe suchen ein „Deutsches Theater" in Weimar zu begründen.

Goethe's erstes grosses Drama, der „Götz", ist ein politisch-sociales: der geniale „Stürmer und Dränger" fühlte instinctiv das Grundgebrechen des deutschen Volkes und der deutschen Dichtung. Das Motto zum Götz klagt: „Das Unglück ist geschehen, das Herz des Volkes ist in den Koth getreten und keiner edlen Begierde mehr fähig". Schiller steht auf deutschpolitischem Boden erst mit dem Wallenstein; sein Schwanengesang, der „Tell", mahnt melancholisch und prophetisch zugleich sein Volk, eine Nation zu werden. Beide wussten wohl, was die deutsche Dichtung und ihre eigene hemmte; Goethe's zugleich so klarer und tiefer Geist vor Allem hat es offen und bestimmt ausgesprochen, dass die Deutschen keine nationale Dichtung haben konnten, so lange sie keine Nation seien.

Heinrich v. Kleist führte im „,Prinz von Homburg" die für die deutsche Entwickelung so ahnungsvolle Gestalt des grossen Kurfürsten auf die Bühne; seine Hermannsschlacht ist ein grossartiger Mahnruf zum Nationalkampf, zu nationaler Einheit, ein Mahnruf, der nicht verhallt ist, zugleich der Scheideruf des Dramas der „classischen" Zeit.

Wir haben bei dieser Betrachtung zugleich eine Reihe von Stücken gefunden, denen zu wahrhaften Nationaldramen nichts fehlte, als dass sie von Mitgliedern einer Nation für eine Nation gedichtet waren. Sie sind (vor Allem Götz, Wallenstein, Hermannschlacht) aus dem national - politischen Leben genommen, ihre Helden sind nationale Helden; Alles was von Nationalem im deutschen Volke vorhanden war, fand hier seinen Ausdruck: aber das nationale Selbstbewusstsein musste den Dichtern fehlen, das Bewusstsein, dass sie an eine wirkliche, nicht eine ideelle Nation sich wandten. Wer fühlt nicht jenen Mangel in diesen Dramen heraus? Wo ist hier das stolze und starke, gesunde Nationalbewusstsein, das Shakespeare's englische Dramen durchdringt?

Ueberall tritt uns die zerrissene, nicht die einheitliche Nation gegenüber, als treues Spiegelbild der damaligen Gegenwart; mit unserer Gegenwart, mit dem zu einer Nation gewordenen Volke, fehlt der directe Zusammenhang; ohne den Abschluss der geschichtlichen Entwickelung, den wir erlebt haben, hatten die Dichter den nationalen Halt nicht, von dem aus sie in die Vergangenheit als Entwickelung zur Gegenwart schauen konnten, das Ziel der Entwickelung lag ihnen noch in dämmernder Ferne; ihre Werke blieben losgerissene Stücke aus der Nationalgeschichte, die sich an kein Gewordenes anschliessen konnten, sie boten Befriedigung in ästhetischer, aber nicht in nationaler Hinsicht.

Die Dichter wollten mehr geben als den Ausdruck ihrer politischen, unnationalen Gegenwart; aber sie konnten höchstens an eine bessere Zukunft mahnen, auf sie hinweisen; ein Ausdruck dieser Zukunft, also ein Ausdruck des wirklich Nationalen, nicht bloss des zum Nationalen neigenden, konnten ihre Dichtungen nicht sein. Der Dichter ist ein Product seiner Zeit und kann auch nur sie wieder produciren.

Drei Arten nationaler dramatischer Literatur sind zu unterscheiden. Die erste Art, die eigentlichen Nationaldramen, sind die eben besprochenen national-politischen. In ihnen erhält die Nation als solche ihr Bild zurückgespiegelt.

Die beiden anderen Arten, die national-socialen und die, wie ich sie nennen möchte, national-kosmopolitischen Dramen, tragen ein weit matteres nationales Gepräge. Dem entsprechend tritt in diesen beiden Gattungen der dramatischen Literatur unserer „,classischen Zeit" der Mangel der politischen Einheit weit weniger hervor, obwohl auch hier der Blick auf ein nationales Ganze den Dichtern bei ihrem Schaffen eine grössere Sicherheit und Klarheit, einen frischeren, freieren, grossartigeren Schwung verliehen, sie noch tiefer und entschiedener zu Herolden und Leitern nationaler Gesinnung, Gesittung und nationalen Denkens gemacht hätte.

Sehen wir zunächst auf die zweite Gruppe, die national-socialen Stücke, so

spielt der grössere Theil derselben ein treues Spiegelbild der Zeit, in der die Dichter selbst lebten - in einer Periode bereits gebrochener nationaler Kraft und Einheit. So Lessing's Minna und Goethe's Götz (von denen letzteres Werk auch hierher gezählt werden kann, ersteres vorwiegend hierher gehört), Schiller's "Räuber" und „Kabale und Liebe"; nur bei Kleist's Käthchen von Heilbronn" trifft dies nicht eigentlich zu.

Was ich unter national-kosmopolitischen Dramen verstehe, wird klar werden, wenn ich Lessing's Nathan", Goethe's „Faust", Shakespeare's "Hamlet" nenne. Sie sprechen nationales Denken, nationale Reflexion über allgemein menschliche Interessen in zunächst nationaler, aber das allgemein Menschliche nicht beeinträchtigender Form aus: auf nationalem Boden stehend, erheben sie sich in die reine Aetherluft des ewig Menschlichen. Sie sind die dichterische Verbrüderung der Nation mit der Menschheit, gleichsam das Angebinde jener für diese.

Man könnte sie auch philosophische Nationaldramen nennen.

Schon der Untergrund des Nationalen ist hier ein breiterer. Er umfasst nicht bloss das einzelne Volk, sondern die Völkerfamilie, den Stamm, zu dem es gehört.

Der "Faust" gehört nach Ort, Zeit, Charakteren, geistigem Gehalt zwar zunächst, aber nicht bloss dem deutschen Volke, er gehört zugleich dem nordisch-germanischen Volksgebiet an (ich erinnere an die Figur des Mephisto, den ganzen Teufels- und Hexenspuk). Aber das Ringen, zunächst des germanischen Geistes mit der Frage nach Grund, Wesen und Zweck des Daseins, kommt in einer Form zum Ausdruck, die von nationalen und StammBesonderheiten gerade nur so viel enthält, um die allgemein menschlichen Züge darunter nicht leiden zu lassen.

„Hamlet" steht von vornherein nicht sowohl auf nationalem, als auf germanischem Boden. Dänemark, Deutschland (Wittenberg!), Norwegen treten in Wechselbezug. England erscheint in der Ferne, und gerade wie im zweiten Theil des "Faust" der germanischen Welt Hellas entgegentritt so bier Frankreich (Laertes!). Hier ist das schrankenlose Spiel des Zweifels, der Skepsis in Gedanke und That zunächst aus germanischem Wesen heraus dargestellt, aber wie in der Form, so im geistigen Gehalt ist das Nationale nur der vorherrschende Untergrund, der das allgemein Menschliche zu anschaulicher Erscheinung bringt. Alle Culturvölker, nach den germanischen vorzugsweise die romanischen, haben sich jetzt, nachdem sie durch die anscheinend fremdartigen Hüllen allmälig bis zum Kern des Werkes durchgedrungen, den Hamlet in vollem Sinne angeeignet.

Es könnte scheinen, als ob Lessing's „Nathan" nicht in diese Zahl gehört. Spielt doch das Stück in Palästina, ist doch die Hauptfigur ein orientalischer Jude. Hier scheint Alles kosmopolitisch, Nichts national zu sein. Indess, nicht nur, dass der Kreuzzug des deutschen Kaisers Friedrich Barbarossa zur Unterlage der Fabel dient, dass die abendländischen Christen gerade nur durch Deutsche vertreten werden, dass auch sonst nationale Anknüpfungen nicht fehlen, wendet sich der Dichter mit seiner Auffassung, mit seiner Lehre über das Verhältniss des Confessionellen zum Religiösen und allgemein Menschlichen, doch zunächst an sein eigenes Volk (die in ihrem ehrlichen, aber beschränkten und vorurtheilsvollen Denken zu bessernden Christen im Drama sind eben Deutsche), an sein eigenes Volk, das dem confessionellen Hader so bittere Opfer gebracht hatte, das aber zugleich jenen Streit des Confessionellen und rein Menschlichen am reinsten, gründlichsten und erschöpfendsten zum Austrag zu bringen, durch seine Geschichte, confessionelle Mischung, seine philosophisch-gründliche Natur angelegt und bestimmt scheint.

Der Ueberblick über unsere classische dramatische Literatur aus nationalen Gesichtspunkten ergiebt demnach, dass zwar sämmtliche Gruppen national-dramatischer Literatur in ihr vertreten sind, dass sie aber

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