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Theorie

der

Neuhochdeutschen Metrik

von

Rudolph Westphal.

Zweite, sehr vermehrte und durch eine Uebersicht der alt- und
mittelhochdeutschen Metrik erweiterte Ausgabe.

Jena.

Verlag von Carl Doebereiner.
1877.

713 g

BIBLIOTHECA REGIA

MOBACENSIS

Vorwort zur ersten Auflage.

Der Dichter Platen, der wie wenig andere die Metra fremder Völker alter und neuer Zeit kennen gelernt und der vor allen anderen auf die metrische Form ein hohes, vielleicht ein allzuhohes Gewicht legte, macht den deutschen Versmaassen ihre Armuth zum bitteren Vorwurf:

Singt nur in Florenz Terzinen
und Ottaven in Sicilien,

zu Paris Alexandrinen

und in Spanien Redondilien,

singt, ihr Britten, Spenserstanzen,

und Kassiden singt, ihr Persen:

arm an Maass zwar ist der Deutsche,

doch nur allzureich an Versen.

Ist das im Ernste so gemeint? Dann ist es eine höchst ungerechte Beschuldigung. Von all den Völkern, die Platen hier neben den Deutschen nennt, haben vor diesen bloss die Perser einen grösseren

Reichthum in der Bildung der einzelnen Verse voraus, aber auch sie stehen darin hinter uns Deutschen zurück, dass trotzdem bei ihnen innerhalb ein und desselben Gedichtes eine grosse Monotonie herrscht, denn mit geringen Ausnahmen wird in demselben Gedichte ein und dasselbe Vers-Schema ohne Abwechselung wiederholt von einer Freiheit und Kunst der Strophenbildung ist der Perser sogar noch weiter als die übrigen Völker entfernt, deren Maassen gegenüber die deutschen Metra in den vorstehenden Reimen Platens mit völliger Entstellung des wirklichen Thatbestandes als arm bezeichnet werden.

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So wunderlich es auch sein mag, es ist in der That Platens wirkliche Ansicht, was er in jenen Reimen ausgesprochen. An einer Stelle seiner Prosa-Aufsätze prädicirt er unsere deutsche Metrik geradezu als „roh, da wir, an das monotone Ge„klapper von Jamben und Trochäen gewöhnt, bei,,nahe den Sinn für eigentlichen Rhythmus verloren ,,haben, da sich unsere ganze Metrik in einem be,,ständigen Lang-kurz oder Kurz-lang auf das ein„tönigste fortbewegt . Die italienischen Maasse „wie auch der französische Alexandriner erfreuen ,,sich einer grossen Mannigfaltigkeit in der Ur„sprache; vermöge unserer Prosodie hingegen wer„den sie eintönig und matt, wie es unser fünf,,füssiger Jambus ist, ein barbarischer und arm

,,seliger Vers, der hoffentlich bald aus der Sprache verschwinden wird."

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Mit Bedauern hören wir einen deutschen Dichter, der mit Recht in der formellen Technik der Poesie als Meister gilt, das national-deutsche Element in unserer Dichtkunst mit so durchaus ungerechten Vorwürfen überschütten und gegen das, was unsere Nachbar-Völker ähnliches haben, tief herab setzen. Es sind diese Schmähungen nicht Aussprüche momentaner Laune und Verstimmtheit, sondern bezeichnen recht eigentlich Platens Grundanschauungen über metrische Form. Nur deshalb, weil er das einfache Lang-kurz und Kurz-lang, wie er dies nennt, für ein unzulängliches Metrum hält, hat er sich die Mühe nicht verdriessen lassen, sogar in Strophen Schematen nach Art der Pindarischen zu dichten, und es verdient allerdings anerkannt und hervorgehoben zu werden, dass unter den Platenschen Gedichten gerade die in dieser schwierigen Form gehaltenen - z. B. das „dem Kronprinzen von Bayern" gewidmete auch ihrem poetischen Inhalte nach zu den gelungensten gehören.

Immerhin aber sind dergleichen Nachbildungen von complicirten Metren der Alten im recht eigentlichen Sinne als Kunststücke anzusehen, die nur von wenigen zu Stande gebracht werden können und wohl am wenigsten leicht von denjenigen, welche als wirklich gottbegnadete Dichter in der metrischen

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