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F71H ४६५

1877

Hochansehnliche Versammlung!

Wir feiern heute den Tag der Stiftung unserer Universität, und richten an ihm, dem Herkommen gemäß, den Blick zurück auf die Thätigkeit der Korporation im verflossenen Jahre, so wie jeder denkende Mensch an wichtigen Lebensabschnitten sich prüft, ob er seine Zeit auch gut benüßt und seine Pflicht erfüllt habe.

Ist ja doch den Lehrern an den Universitäten ganz besonders die schwierige Aufgabe zugewiesen, mit den dem Menschen verliehenen Werkzeugen an der Erweiterung der Erkenntniß des ganzen Geschlechts und des Einzelnen mit aller Kraft zu arbeiten, und durch Beispiel und Wort die Jünger zu unverdrossenem Schaffen und zum Streben nach dem höchsten Ziele anzueifern.

Nach dem alten Testamente wurde es dem fündhaften, aus dem Paradiese verjagten Menschen als Strafe auferlegt, im Schweiße des Angesichtes sein Brod zu essen: aber bei der einmal gegebenen Organisation ist für ihn die Arbeit keine Plage, sondern vielmehr seine beste Mitgift.

Nur für den Allwissenden wäre die Arbeit und das Streben nach Besserem entbehrlich und undenkbar; für den in die geheimnißvolle Welt gesetzten Sterblichen jedoch ist das Bedürfniß und die Fähigkeit der Erkennung der Ursachen der Dinge das glücklichste Loos, und die auf ein bestimmtes, wenn auch noch so einfaches Ziel gerichtete Arbeit der reinste Genuß und Trost, denn sie lehrt ihn, troz des vielfach Unbegreiflichen nicht zu verzweifeln, sondern vertrauensvoll in Erfüllung der ihm beschiedenen Aufgabe seine Schuldigkeit zu thun.

Es erscheint mir daher geeignet, bei dem heutigen Feste der Universität über einige Bedingungen zu sprechen, welche gegeben sein müssen, wenn die Werkzeuge, deren wir uns zur Erringung der Erfolge bedienen, nicht stumpf werden, sondern die größte Leistung vollbringen sollen.

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Die Lebenserscheinungen beruhen, wie bekannt, sämmtlich auf ununterbrochenen für unser unvollkommenes Auge nicht sichtbaren Bewegungen kleinster Theilchen am Körper. Wäre der lebendige Leib durchsichtig wie Glas und wären zugleich jene Bewegungen wahrzunehmen, so wie wir die Bahnen der großen Gebilde am gestirnten Himmel beobachten und messen, wir würden überall im Organismus die verwickeltsten Bewegungen erblicken, noch viel verwickelter als an der complizirtesten von Menschenhand gebauten Maschine, auch an Organen, die uns selbst bei stärkster Vergrößerung stets völlig ruhig erscheinen, wie z. B. die Nerven oder das Gehirn. Diese letteren Organe sind daher zeitweise nicht minder thätig wie die arbeitenden Muskeln, bei denen die Lageveränderung der Theilchen außerdem noch eine Gestaltveränderung des Organs hervorbringt, wodurch ganze Körpertheile und dadurch äußere Objekte in sichtbare Bewegung versezt werden können.

Die durch Muskeln veranlaßten Bewegungen der Körpertheile sind es vorzüglich, nach denen man für gewöhnlich die Existenz des Lebens beurtheilt; außerdem noch aus der Wärmebewegung, die uns zwar sehr beträchtlich erscheint, aber für den ganzen menschlichen Körper doch nicht mehr Wärme liefert, wie das winzige Flämmchen einer kleinen Weingeistlampe, welche in einer Stunde 15 Gramm Alcohol verzehrt. Mit dem Eintritte des Todes ist der Mensch, den wir vielleicht noch kurz vorher in lebhafter Bewegung gesehen und dessen lebenswarme Hand wir gedrückt, starr und kalt geworden; andere Vorgänge haben sich in ihm unter den veränderten Bedingungen eingestellt.

An dem Unlebendigen nagt unaufhaltsam der Zahn der Zeit: durch ihn werden Felsen zermalmt, Maschinen im Gange abgenüßt und die edelsten Werke menschlichen Schaffens der Zerstörung anheimgegeben. In dem Leibe des Thieres und des Menschen zerfallen ebenfalls durch gewisse Ursachen beständig die Bausteine in unbrauchbare Trümmer, in verstärktem Maaße bei der Thätigkeit. Man sollte aber denken, daß die Organisation, wenn sie nicht durch rohe Gewalt ganz zerbrochen wird, ewig fortleben könnte, da sie im Stande ist, das Zerstörte zu erseßen und sich stofflich zu erneuern. In der That ist das Ersapmaterial, welches ein Mensch während eines 70jährigen Lebens nöthig hat, etwa tausend Mal so groß als die Maße seines Körpers; der Organismus erhält sich dadurch eine gewisse Zeit lang auf seinem vollen Bestande und auf seiner vollen Kraft; aber dann

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treten, ohne daß wir bis jezt den Grund dafür kennen, Veränderungen auf, die schließlich zu abnormen Vorgängen führen und dem Leben ein Ende machen.

Kein strebender Mensch würde sich wünschen, auch der Glücklichste nicht, auch wenn er stets jung und kräftig bliebe, ewig zu leben; der Tod würde ihm nach einer gewissen Zeit als eine unsägliche Wohlthat erscheinen. Die Qualen Ahasver's, dem der Grabesruhe Trost versagt ist, malen uns einen solchen Zustand aus : Sehen müssen durch Jahrtausende

Das gähnende Ungeheuer Einerlei !

Denn wenn auch in fortwährender Entwicklung Neues, oft Wunderbares erkannt und geschaffen wird, und wir dadurch eine Zeit lang Abwechslung und Freude genießen, so muß doch der Sinn dafür bald erlahmen, da in den großen Fragen der Menschheit der Fortschritt ein kaum bemerkbarer ist; das Räthsel nach dem Urgrund der Welt, das aller Menschen Sinn beschäftiget, es bleibt ungelöst, und man würde zulezt mit dem Wanderer, nach Ruhe sich sehnend, rufen:

Ach, ich bin des Treibens müde!

Was soll all' der Schmerz und Luft?
Süßer Friede,

Komm, ach komm in meine Brust!

Aber auch während des Lebens vermögen die Theilchen der thätigen Organe nicht ununterbrochen in Bewegung zu bleiben. Mit der Zeit nimmt bei gleicher Bewegungsursache aus Gründen, die wir hier nicht untersuchen wollen, der Effekt ab und die Thätigkeit läßt nach oder hört schließlich ganz auf; man sagt: die Theile sind ermüdet.

Die Ermüdung kommt nicht ausschließlich der lebendigen Organisation zu. Die unbelebte Materie kann zwar scheinbar, wenn die bewegende Ursache in gleicher Stärke anhält, fortwährend ohne Nachlaß oder Ermüden in Bewegung verharren: Die Meeresfläche wird Tage lang durch den Sturm gepeitscht und in mächtigen Wellen erhoben; die den Weltenraum erfüllenden Aethertheilchen werden seit Millionen von Jahren durch das von den Sonnen ausgehende Licht in Erzitterungen versezt und sie ermüden nicht. Aber doch kommt auch in der unbelebten Natur, dem Prinzip nach, ein Ermüden, allerdings ohne das Gefühl desselben, vor d. h. es zieht nach längerer Bewegung die gleiche Ursache nicht mehr den gleichen Er

folg, sondern einen abnehmenden nach sich. Der durch Wasser geleitete elektrische Strom zerreißt die Wassermoleküle in ihre Bestandtheile und bringt eine Zersehung hervor, welche aber mit der Dauer der Einwirkung durch gewisse Einflüsse, durch die sogenannte Polarisation abnimmt. In gleicher Weise wird, wenn sich eine Maschine warm läuft und dadurch die Widerstände zunehmen, die Leistung eine geringere. Ueberall, wo bei gleichem Antrieb ein allmählicher Nachlaß des Effektes durch das Auftreten von Hindernissen oder von Widerständen der verschiedensten Art stattfindet, also auch bei unbelebten Körpern können wir von einer Ermüdung sprechen, wenn auch die belebten sie in höherem Grade zeigen.

Es wäre nicht richtig, nur dann eine Ermüdung anzunehmen, wenn wir eine Empfindung von derselben haben, denn an einer Drüse, einem Nerven oder Nervencentrum erkennen wir die Ermüdung ebenfalls nur an der Abnahme der Leistung, und nur die Muskeln besigen ein besonderes Gefühl der Ermattung. Es ermüden ferner nicht alle lebendigen Organe, sondern nur diejenigen thätigen Organe, in welchen die Kraft für die Leistung entwickelt wird. Das Blut z. B. wird ohne Ermüden fortwährend mittelst der Kraft der Herzpumpe durch die Gefäßröhren getrieben, ebenso die Knochen durch die Muskeln in Bewegung verseßt.

Es muß deßhalb sowohl in der unbelebten als auch in der belebten Natur, um die durch die Arbeit aufgethürmten Hindernisse wegzuräumen und den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen, eine Zeit der Ruhe gegeben sein.

Selbst da, wo wir im lebenden Organismus eine ununterbrochene Thätigkeit wahrzunehmen glauben, sind Pausen der Ruhe vorhanden. Das so geschäftig pochende Herz, die ohne Unterlaß zu arbeiten scheinenden Athemmuskeln, sie haben eine Zeit der Ruhe. Es wechseln bei ihnen in kleinen Zwischenräumen Thätigkeit und Ruhe ab; alsbald nach der Anstrengung bei einem Herzschlage oder einem Athemzuge erfolgt während der kurzen Erschlaffungszeit die Erholung, so daß die Organe gleich wieder zu neuer Leistung bereit stehen.

Andere Organe, wie z. B. die meisten Muskeln, manche Drüsen oder gewisse im Gehirn befindliche Nervencentra, welche in anhaltende und angestrengtere Thätigkeit versezt werden, haben deßhalb eine länger währende Ruhezeit nöthig.

Jeder hat vielmals an sich selbst die Ermattung der Glieder nach einem tüchtigen Marsche gefühlt; oder erkannt, daß wenn er einige Zeit auf einer Seite

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ein Stück trockenes Brod gekaut hat, hier der Quell der Speichelabsonderung verfiegt und er den Bissen auf die andere ausgeruhte Seite werfen muß; oder die Abspannung wie die Schwierigkeit nach andauernder geistiger Beschäftigung noch weiter mit voller Klarheit zu denken empfunden. Dieser in unserer Organisation gegebenen Einrichtung muß der Mensch Rechnung tragen, und er gebraucht nur unter Schädigung der Werkzeuge dieselben in Uebermaaß.

Je länger die Anstrengung währt und je intensiver sie ist, desto mehr Zeit ist zur Erholung erforderlich; sie kann selbst bis zur bleibenden Erschöpfung getrieben werden, so daß eine Wiederherstellung der Kräfte gar nicht mehr möglich ist. Durch die mächtige Erschütterung in einem heftigen Anfalle von Starrkrampf werden Muskeln und Nerven gelähmt; ein Thier kann zu Tode gehezt werden; wir wissen, wie der Mensch durch unablässige heftige Schmerzen mürbe gemacht, durch Schreck erschüttert oder durch ein schweres Geschick geknickt wird, so daß er sich häufig nur allmählig von diesen Schlägen erholt. Namentlich sind die Folgen zu intensiver geistiger Arbeit nur schwer zu überwinden und Mancher ist ihrem untergrabenden Einfluße schon zum Opfer gefallen; sie läßt die Theile in einem Zustande zurück, daß sie nicht zur Ruhe kommen und durch die geringsten Anlässe in lebhafte Erregung gerathen, aber nach kurzer, ungenügender Leistung ermüdet zusammensinken.

In entgegengesetzter Weise wie die Ueberanstrengung wirkt der Nichtgebrauch der Organe lähmend ein. Leßtere werden nach längerer Unthätigkeit leistungsunfähig, indem ihre Theilchen schwer beweglich werden; ja man sieht schließlich eingreifende Aenderungen der Formen der Organisation eintreten. Das Auge von in dunkle Höhlen gerathenen Thieren, welches nicht mehr von dem Lichte der Sonne getroffen wird, entartet nach einigen Generationen, es wird unfähig zum Sehen und schwindet zulezt gänzlich. Auch diese so höchst merkwürdige Abnahme der Leistung nach langer Ruhe hat in gewissen Erscheinungen der unbelebten Natur ihre Analogien. Ein nicht benütztes Schwert wird allmählig rostig und unbrauchbar; eine längere Zeit stillstehende Maschine ist durch Ansammlung von allerlei Schmug anfangs kaum in Bewegung zu versehen und man muß sie sorgfältig reinigen und einlaufen lassen, bis sie wieder gute Dienste thut. Die schlimmen Folgen der körperlichen oder geistigen Trägheit, besonders zu einer Zeit, in der die volle Entfaltung der

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