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unserer Volksmärchen in ihrer ursprünglichsten Gestalt verdanken, sich nicht erklären wollen gegen ein freics Auffassen derselben zu eigenen, ganz der Zet angehörenden Dichtungen; denn wer hätte Lust, der Poesie Gränzen abzustecken?" Dieser Freiheit nun hat sich Clemens Brentano bedient, und zwar nicht, um, wie Musäus u. A., das Märchen mit einem für es nicht passenden modernen Gewande zu umhüllen und es zur Folie moderner Sentiments und Reflexionen zu machen, sondern um mit schöpferischem Dichtergeist durch neucs Gestalten, Verknüpfen und Erfinden das Gebiet des Märchens selbst zu bereichern und zu erweitern.

Die Hand des mit seinem Stoffe frei schaltenden Dichters offenbart sich schon in der Anordnung des Buches, insofern ihr das Bestreben zu Grunde liegt, zwischen den einzelnen Märchen auch einen äußern Zusammenhang herzustellen, während die Volksmärchen selbst wir durch den gemeinsamen Geist verbunden sind, dem sie alle entsproffen, und der in allen waltet. Der Verf. selbst spricht sich in einer dem Herausgeber mitgetheilten Stelle eines Briefes an den Maler Runge in Hamburg darüber also aus: ,,Der Plan des Buches ist folgender: Durch ein märchenhaftes Geschick gerathen alle Kinder der Stadt Mainz und auch die Kronprinzessin Ameleya in die Gewalt und Gewahrsam des alten Flußgottes Rhein und wohnen bei ihm in einem gläsernen Haus. Ein Müller von feenhafter Abkunft wird der Bräutigam der Prinzessin und König von Mainz; nun sigt er auf seinem Thron, von den Bürgern umgeben, immer Morgens am Fluß, und da werden Märchen erzählt, denn der alte Flußgott hat sich erboten, jedes einzelne Kind gegen ein an seinem Ufer erzähltes Märchen herauszugeben; dieses ist der Eingang, eine romantische Fabel von etwa acht Druckbogen. Die erste Erzählung, momit der König seine Braut selbst von dem Rheine auslöst, eröffnet die Märchenreihe und enthält seinen Zug nach der Gegend seines Ursprungs und die Geschichte seines Namens, die er dort entdeckt, etwa zwölf Bogen; nun erzählt ein armer Fischer ein Märchen, Murmelthiers chen, um sein geliebtes Kind Ameleychen, der Prinzessin kleine Pathe, auszulösen, etwa vier Bogen; dann erzählt ein Schneider ein Märchen, der Schneider Siebentodt, um seinen Sohn auszulösen, etwa zwei Bogen. So weit ist das Manuscript fertig, welches ich immer, so lange cs das Interesse des Verlegers erlaubt, fortseßen kann und will; es folgen dann abwechselnd christliche, jüdische und aller Stände Mährchen, kürzer und größer, wie es

die Muse gibt. Viele Kinder können durch Lieder und Sprüche oder auch kleine rührende historische Ereignisse ausgelöst werden; kurz, der Plan bietet einen Faden für alle Gattung kindlicher Dichtungen, und kann eine ganze poetische Kinderwelt umfassen.". Ein derartiges Aufreihen der Märchen an einen gemeinschaftlichen Faden gewährt allerdings den Vortheil, daß es für die Person der Erzähler, die auch zugleich die Helden der Märchen sind, ein gewisses Juteresse erregt, in ihrem Kreise gleichsam heimisch macht, und, wenn man ein Märchen gelesen, die Begierde, das folgende kennen zu lernen, steigert; auf der andern Seite aber wird dadurch doch der freien Beweglichkeit der einzelnen Dichtungen ein unnöthiger Zwang angethan, und es droht die Gefahr, daß die Vereinigung so verschiedenartiger Stoffe um einen Mittelpunkt gewaltsam wird, oder nur durch Anhäufung künstlich herbeigeschafften Beiwerkes gelingt, wodurch der wahre Sinn und Gehalt der Märchen verhüllt wird. In der That hat auch der Dichter jenen Verknüpfungsplan nur in Bezug auf die in obiger Stelle von ihm selbst erwähnten Märchen durchgeführt. Die übrigen, obgleich einige von ihnen eine größere oder geringere Beziehung zu jenem Kreise der Rheinmärchen noch deutlich verrathen, hat er in ihrer Vereinzelung stehen lassen *). Im ersten Mährchen nun, „von dem Rhein und dem Müller Radlauf“ (I, S. 1-159) schürzt er den Knoten, mit welchem er nachher sämmtliche Märchen zu verknüpfen denkt. Hier treten die Hemmnisse, welche dieser Verknüpfungsplan nothwendig mit sich führen muß, noch nicht hervor, vielmehr hat hier der Dichter noch vollkommen freie Hand, und um sinnreich benußte Stoffe, welche Volkssage und Wirklichkeit darbot, hat gerade hier, was Wiß, Phantasie und Gemüth des Dichters vermag und wagt, vereint und im größten Reichthum sich ergossen. Wie wunderschön ist in der Erzählung des Goldfischchens, der wir oben eine Stelle entnahmen, die Schilderung des gläsernen

schon

*) Auch das den zweiten Theil (S. 1 – 36) eröffnende Märchen von den Märchen oder Liebseelchen arbeitet zuleht nur darauf hin, eine Stube voll alter Spinnerinnen _ zusammenzubringen, von den jede ein. Märchen erzählen muß, und auf diese Weise einen neuen Faden zu spinnen, an welchen dann unzählige Märchen angereiht werden könnten. Wir haben keinen Grund, zu bedauern, daß der Dichter von dieser neuen Einkleidungsform keinen Gebrauch gemacht, wohl aber, daß um ihretwillen, das einleitende Märchen selbst, troß vieler schönen Motive, feinen rechten Eindruck machen und kein selbstständiges Interesse darbieten kann,

Palastes, des alten Vater Rhein:,,Wir waren unter einem gläser nen Gewölbe, und über uns sahen wir das Gewässer mit Millionen bunten Fischen, die sich mit ihren glänzenden Schuppen an das Glas anlegten und mit ihren Goldaugen hereinsahen, so daß die ganze Decke wie tausend Regenbogen durch einander schimmerte; wo sich die Fische wegbewegten, sah man wieder zwischen wunders baren Felsen die Sterne und den Mond durch die dunkle Fluth leuchten, es war nicht zu beschreiben, wie schön. Ja, wenn aller blauer Himmel eine Wiese wäre, und alle Sterne bunte Blumen, und alle Wölkchen Lämmer, und der Mond ein Schäfer, und die Sonne ein goloner Brunnen, und die Morgenrüthe eine erwachende Hirtin, und die Abendröthe ein ermüdeter Jäger, und die Liebe zöge wie ein Lüftchen durch die Blumen und bewegte sie, und die bunten Bänder der Hirtin spielten in ihr, und die Locken des Jägers wehten in ihr, und der goldene Brunnen spränge und und ergösse sich durch die Wiesen, und die Lämmer tränken aus ihm, und der Schäfer stellte einen bunten Stab in den Brunnen vor die Augen der Lämmer und Alles wäre selig, und ihr läget unschuldig wie euer Ameleychen in der Wiege, so war es roch noch nicht halb so schön, als was ich da sah." Und wie sinnig. innig heißt es dann weiter: über sich "So sah es aus, wenn man sah" fuhr Goldfischchen fort ,,ein solcher Himmel lag über Ameleychen und den übrigen Kindern. Aber als ich hinabsah, da ging mir das Herz erst auf ---Rund herum ging eine breite Stufe nach der andern hinab, und auf allen standen im Kreis herum eine Wiege, ein Bettchen am andern, und wir sahen in einen Himmel von tausend schlummernden Kindergesichtern; auf der einen Seite schlummerten alle Mägdlein, auf der andern alle Knaben. Tief unten aber stand auf der einen Seite ein schönes Bett von

lauter Korallen, darauf schlummerte die Prinzessin auf der

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andern Seite stand ein Bett von Felsenstein mit Goldsand gefüllt, darauf schlief der alte Vater Rhein, ein gar ehrwürdiger, großer und starker Greis, ein langer grüner Schilfbart hing von seinem Lager herab über eine artige gläserne Wiege, und, ach, Frau Marzibille! wer schlummerte in dieser Wiege?" „Ach, mein blondes Ameleychen," schrie die Fischerin und, weinte vor Freude. „Ja, Ameleychen schlummerte da, a sagte Goldfischchen, und lächelte im Traume, und hatte rothe Bäckchen, wie hier, und hatte seine Händchen gefaltet, wie hier, und seine Kleiderchen lagen ordentlich und reinlich zusammengelegt auf dem kleinen Schemel,

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der bei seinem Bette stand, wie hier.“ „Ja, es war immer ein gutes und frommes Kind," sagte jezt der Fischer und weinte auch." In diese Zauberwelt, die der Dichter sich selbst geschaffen, zicht er nun wieder hinein, was die Volkssage ihm bot: Der wunderbare Glanz im Goldpalaste des Rheins geht aus von dem Nibelungenhort, der da unten liegt in einem mit goldenem Gitter verschlossenen weiten Gewölbe aufbewahrt, ja neben den Nibelungen beschwört Clemens Brentano sogar Hagen, Docen und die beiden Grimm aus ihren Studirzimmern herbei, und wenn er neben dem freundlichen Kindergewimmel feines zaubervollen Wasserreichs die ernsten Gelehrten eine etwas sonderbare Figur machen läßt, so hätte man ihm das freilich gern erlassen. Die Romantiker, und vor Allem unser Clemens und Arnim mit ihrem Wunderhorn, haben viel dazu beigetragen, die erstorbene Volksthümlichkeit wieder zu erwecken, aber dieser für die erste Anregung so wirksame enthusiastische Dilettantismus konnte für die Dauer nicht vorhalten; als ich ein Mann ward, legte ich ab, was kindisch war," hat der Apostel Paulus gesagt, zu ihrem Heile kann es das Studium unserer alten Sprache und Kunst ihm nachsprechen und besonders durch das Verdienst der beiden Brüder, die damals an der Fuld so voll Geduld studirten dort an einem Pult, und die doch auch den Kindern die alte Pracht der wundervollen Märchenwelt so freundlich wieder aufschlossen. Ergöglicher dagegen lies't sich die Entstehungsgeschichte der Wappen, die strategischen Maßregeln, deren Prinz Mauseohr von Trier bei Führung seiner muthigen Linientruppen sich bedient, und anderes auf Zeitverhältnisse Bezügliche.

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Das zweite Märchen von dem Hause Staarenberg und den Ahnen des Müllers Radlauf", der nichts Geringeres ist, als der Sohn der Frau Lureley, ist, neben dem von „Fanferlieschen“, das längste von allen (S. 161-355); aber es fehlt ihm an einem rechten Kern und Mittelpunkt: man sieht ihm zu deutlich an, daß es eigentlich in Folge des oben berührten Verknüpfungsplans der Märchen seine jezige Gestalt gewonnen hat, damit es den Hauptfaden fortspinne und die einzelnen Fäden, welche die anderen durchziehen, daran festknüpfe. Und doch ist es nur poetischer Reichthum, den der Dichter hier nicht gehörig zu Rathe gehalten," für ein halbes Dußend trefflicher Märchen hätte der Stoff ausgereicht, für eins ist er zu reich.

Einzelnes Kostbare glänzt uns auch hier überall aus dem wild und üppig verwechsenen Waldesdunkel und Blumengarten ent

gegen; wir wollen nur, zur Charakteristik des zarten, innigfrommen Kindersinnes des Verfassers, die schönen Worte der Jungfrau Mildigkeit" hervorheben:

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Und wenn uns der Dichter wieder in die Region des Rheins führt, da geht uns das Herz wieder auf, wie ihm selbst und seis nem Müller Radlauf, der, von langer Wanderschaft heimkehrend, den heiligen Strom also begrüßt:

Weiß ich gleich nicht mehr zu hausen,
Find ich gleich die Mühle nicht,
Seh ich dich doch wieder brausen,
Heil'ger Strom im Mondenlicht.

willfomm! willkomm! willkommen!
Wer einmal in dir geschwommen,
Wer einmal aus dir getrunken,
Der ist Vaterlandes trunken.

Wo ich Sonnen niedersenken
Sich zum Erdenspiegel sah,
Oder Sterne ruhig denken
Ueber'm See, warst du mir nah.

willkomm! willkomm! willkommen!

Wen du einmal aufgenommen,

Wen du gastfrei angeschaut

Keiner Freude mehr vertraut.

Ström' und Flüss' hab' ich gesehen,
Reißend, schleichend durch das Land,
Aber keiner weiß zu gehen,

Herrlich so durch's Vaterland.

willkomm! willkomm! willkommen!

Schild der Starken, Trost der Frommen,

Gastherr aller Lebensgeister,

Erzmunbschenf und Küchenmeister!

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