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Einige Bemerkungen über die Zurückführung deutscher Gedichte auf ihre Quellen.

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Von dem jest in Schulen üblichen Verfahren, Balladen, Romanzen und andere Gedichte auf ihre Quellen zurückzuführen, und die Umformung des Stoffes unter der Hand des Dichters zu betrachten, würde sich Goethe, wenn er es erlebt hätte, nicht fehr erbaut gefühlt haben. In seinem Briefwechsel mit Schiller macht er über Herder, der in Bezug auf den Taucher geäußert hatte, daß hier nur die Geschichte eines Nicolaus Pesce veredelnd umgearbeitet sei, folgende Bemerkung: „Wenn unser alter Freund bei einer solchen Bearbeitung sich noch der Chronik erinnern kann, die das Geschichtchen erzählt, wie soll man's dem übrigen Publico verdenken, wenn es sich bei Romanen erkundigt, ob denn Alles fein wahr sei?" Wir sehen davon ab, daß hier zwei ziemlich verschiedene Dinge zusammengeworfen sind, daß Interesse an dem Stoffe selbst, die rein stoffliche Theilnahme,“ wie Goethe es nennt, und das Interesse an der ursprünglichen Form des Stoffes; so viel leuchtet jedenfalls aus dieser Bemerkung Goethe's, wie aus mancher andern in dem Briefwechsel, ein, daß er kein Freund davon war, wenn die Lesewelt dem Dichter in seine Werkstätte hineinblickt, wo sich das rohe Material unter seiner Hand zum Kunstwerk gestaltet, und noch weniger, wenn es ihm in die geheimen Schachten nachspäht, aus denen er seine Stoffe heraufholt. Er wünschte, wie er es in einem andern Bilbe ausdrückte, das Publikum möge sich nur an die ausgespielten Blätter halten, nicht aber dem Dichter über die Schulter in die Karten sehen. Man könnte hiezu vielleicht sagen, ein solches Urtheil sei von Goethe nicht befremdlich; als Dichter habe er sich in einer ähnlichen Lage wie der Taschenspieler befunden,

dem auch daran liegen müsse, daß man ihn hinter seinem Tische gewähren lasse und nicht seine Künste den bewundernden Zuschauern verrathe. Aber auch Nichtdichter haben Bedenken gegen jenes Verfahren laut werden lassen, und ein selbst um die Erklärung deut scher Dichter sehr verdienter Mann, Hoffmeister, spricht sich über ein Zurückgehen auf die Quellen, wie wir es bei Schmidt, Gözinger u. a. finden, in folgender Stelle seiner Biographie Schiller's aus: ,,Den Stoff zu seinen Balladen hat Schiller in der Regel aus der Geschichte oder Mythe genommen. Da nun häufig Ein Gegenstand sehr verschiedenartig überliefert und behandelt ist, so hat es für den Literarhistoriker allerdings ein großes Interesse, diese abweichenden Sagen, Geschichten und Bearbeitungen einer Begebenheit zu erforschen und miteinander zu vergleichen, damit die Entwickelung und Umgestaltung derselben bei verschiedenen Völkern, Zeiten und Dichtern lebendig erkannt werde. Mir scheint aber dieses Verfahren, so höchst verdienstlich es in anderer Hinsicht sein mag, von einem bestimmten Gedichte die Aufmerksamkeit eher abzuleiten, als zur wahren Einsicht und zum Genusse desselben etwas beizutragen. Begräbt eine solche Methode nicht das Aesthetische durch das Literarische?" Und ein anderer, gleichfalls um Erläuterung deutscher Gedichte und zugleich um den gesammten deutschen Unterricht hochverdienter Mann bemerkt im nächstvorigen Hefte dieses Archivs (S. 313.) gelegentlich: „Wird der Stoff eines Gedichtes in seiner Urgestalt ausfindig gemacht, so kann die materielle Verschiedenheit desselben, die wohl als einen Ueberschuß an Reichthum sich geltend macht, dazu verleiten, daß man im Gedichte Manches vermißt, was in dem Grundstoffe sich vorfindet, und daß man dann einen Mangel an Klarheit und Vollständigkeit wahrzunehmen glaubt, wo doch für den poetischen Sinn Alles gegeben ist, wessen derselbe bedarf."

Um die hier bezeichneten und andern Abwege zu vermeiden, auf die man beim Zurückgehen zu den Quellen der Gedichte allerdings leicht gerathen kann, dürften folgende Punkte festzuhalten sein:

Erstens wird man sich, in der Regel wenigstens, auf die Betrachtung der Quelle zu beschränken haben, aus welcher der Dichter unmittelbar geschöpft hat, — was auch Hoffmeister im Verlauf der obigen Stelle in folgenden Worten ausspricht: Den Erklärer als solchen geht der Stoff in allen seinen übrigen Gestalten nichts.

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an, sondern nur in der Einen Form, in welcher ihn der Dichter ini vorfand." Damit ist indeß nicht gesagt, daß Verfasser von Com mentaren, die den Schüler nicht ausschließlich im Auge haben, das interessante Phänomen der wandernden und sich verwandelnden Sagen, die so oft den Gegenstand unsrer Balladenpoesie bilden, nicht zuweilen nach mehrern Seiten hin verfolgen dürfte; und darin mag denn auch Schreiber dieses Entschuldigung finden, wenn er, nach Göginger's Vorgange, in seinem Commentare zu Schiller's Gedichten (weniger in dem zu Goethe) manchmal den sagenhaften oder geschichtlichen Grundstoff eines Gedichtes in mehrern Gestalten vorgeführt hat. Auch dürfte es nicht zu mißbilligen sein, wenn man ein paarmal auf Veranlassung eines Gedichtes den reifern Schülern jene merkwürdige Erscheinung der Sagen-Wanderung und Wandelung an einem Beispiel veranschaulichte. Aber als Regel wird bei der Interpretation in der Schule jene Beschränkung auf die nächste und unmittelbare Quelle des Dichters anerkannt werden müssen.

Dann lasse man zweitens das Zurückführen der Dichtungen auf ihre Quellen erst auf den obersten Stufen des deutschen Unters richtes eintreten. Es ist von großer Wichtigkeit, daß der Eindruc eines Gedichtes auf den Jüngling unbefangen, rein und sicher sei. Nun läßt sich aber nicht läugnen, daß durch die Vergleichung mit dem rohen, ungeformten Stoffe der Eindruck der Poesie, zumal auf den Sinn einer unreifern Jugend, leicht getrübt und gestört werden könne. Also nur dem sichrer fassenden, schärfer scheidenden Sinne reiferer Jünglinge muthe man eine solche Vergleichung zu. Allein auch bei diesen ist darauf zu achten, daß sich zuerst das Gedicht dem Geiste rein und bestimmt einpräge, ehe man die Zurückführung desselben auf seine Quelle unternimmt. Wenn das Gedicht ein' ächtes Gedicht ist, wenn es zu einem wahrhaft selbstständigen Gebilde, zu voller Sicherheit, Klarheit und Ganzheit in sich ausgez staltet ist, so ist, wie dies auch in der oben angezogenen Abhandlung von Hiede (S. das vorige Heft, S. 313.) ausgesprochen worden, das Zurückführen auf die Quelle keineswegs nothwendig: der Interpret als solcher hat dazu gar keine Verpflichtung; wenn er es unternimmt, so thut er es vorzüglich im Interesse der Poetik, um den Prozeß der dichterischen Formgebung zu veranschaulichen und zu erläutern. Hieraus erhellt aber wieder beides, was wir eben als Regel aufstellten, einmal daß eine solche Behandlung des

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Gedichtes nur für reifere Schüler gehört, und zweitens, daß ste etwas Secondaires, Accessorisches ist und der eigentlichen Interpretation folgen soll.

Es sollte sich von selbst verstehen, ist aber doch vielleicht nicht überflüssig zu erinnern, daß diese Vergleichung des Gedichtes mit dem Grundstoffe nicht auf eine Kritik des Dichters, sondern auf eine bloße Beobachtung seines Verfahrens hinauslaufen dürfe. Der Schüler soll in die Werkstätte des Künstlers geführt werden, damit der Anblick seines Schaffens, seiner Sorgfalt, seiner Umsicht belehrend, belebend und begeisternd auf ihn wirke, nicht damit der Geist einer dünkelhaften, naseweisen Kritik in ihm angeregt werde. Es wird daher anzurathen sein, diese Beobachtung der Genesis eines dichterischen Kunstwerkes vorzüglich bei solchen Productionen vorzunehmen, wo das Verfahren des Dichters wenigstens nicht häufig zu Mißbilligung und Tadel herausfordert; und da wo man sich nicht mit ihm einverstanden erklären kann, mag von Seiten des Lehrers die Kritik mehr in Form von Bedenken, als entschiedenen Ausstellungen auftreten.

Unter den hier angegebenen Beschränkungen darf man aber unbedenklich das Ableiten der Gedichte aus ihren Quellen als eine treffliche Geistesgymnastik, als einen für Geschmack und Urtheil gleich bildenden Cursus der Poetik und Aesthetik ansehen. Was könnte belehrender und übender sein, als dieses Nachschaffen und Nachformen, diese Thätigkeit, worin sich Theorie und Praxis auf's innigste verbinden? Es kommen dabei ganz andere und feinere Punkte aus der Dichtungs- und Geschmackslehre, aus der Metrik und der Theorie poetischer Formgebung überhaupt zur Sprache, als in einem gewöhnlichen Cursus rieser Disciplinen.

Wie aber in allem Unterricht, so ist auch hier eine gewisse Stufenfolge, ein Fortschritt vom Leichtern zum Schwerern zu beobachten. Zuerst werden solche Uebungen bei Gedichten anzustellen sein, in denen die selbsterfundene Zuthat des Dichters zu dem, was er aus der Quelle geschöpft, nur gering ist, wo er das Quantum des Stoffes, die Reihenfolge, worin er dargestellt ist, und die zu Grunde liegende Idee ziemlich unverändert gelassen hat. In diesem Falle richtet sich die Aufmerksamkeit mehr auf das Acußerlichste der poetischen Gestaltung, auf die Wahl des Metrums, auf die Vertheilung des Stoffes in die Strophen, auf den Unterschied des dichterischen und prosaischen Ausdrucks u. s. w. Zu andern Betrach

tungen ist Anlaß geboten, wenn der Dichter es zwar bei dem überlieferten Quantum des Stoffes ungefähr gelassen, aber die Ordnung und Folge der Darstellung geändert hat, wie Schiller in feinem Kampf mit dem Drachen. Hier kommt nun das Zusammenziehen des zeitlich und räumlich Entlegenen auf einen engern Raum, die scenische Einheit, die dramatische Gestaltung eines epischen Stoffes u. dgl. zur Sprache. Wieder eine Stufe höher wird der Schüler geführt, wenn der Dichter das in der Quelle Vorgefundene bedeutend erweitert und ausgeführt hat, wie in Schiller's Bürgschaft. Bei diesem Gedichte z. B. wäre der Schüler dazu anzuleiten, sich Rechenschaft zu geben, warum der Stoff weiter ausgeführt werden mußte; und welche besondere Bestimmung jedes der vom Dichter erfundenen Motive habe. Einem bescheidenen Zweifel an der Zweckmäßigkeit des einen, schon von Goethe bedenklich gefundenen Motivs (Ich, soll hier verschmachtend verderben.") mag dabei immerhin Raum gegönnt werden. Andere Betrachtungen rust wieder ein Gedicht hervor, worin einem überkommenen ältern Stoffe eine neue Grundidee untergelegt ist; und so ließen sich von der Zurückführung der Gedichte auf ihre Quellen noch manche Abstufungen und Modificationen angeben, bis zu dem an der Gränze der freien Erfindung stehenden Falle, wo der Dichter aus einem irgendwo vorgefundenen ganz einfachen Keime durch die befruchtende Kraft seiner warmen Phantasie und Empfindung ein reiches und volles poetisches Gebilde entwickelt hat, wie z. B. Goethe im neuen Pausias. Auf welche Weise man bei diesem Gedichte dem Schüler einen Einblick in den Prozeß des dichterischen Verfahrens verschaffen könne, habe ich in meinem Commentar zu Goethe's Gedichten (II. 285 ff.) wenigstens anzudeuten versucht. Ich ging dabei von dem Gedanken aus, daß es dem Dichter um einen förmlichen Wettstreit mit dem Maler zu thun gewesen sei, und finde diese Annahme nachträglich durch den Goethe-Schiller'schen Briefwechsel vollkommen bestätigt. Hält Jemand dies Gedicht seines Inhaltes wegen zur Behandlung mit Schülern nicht für geeignet, so fehlt es in unserer Literatur auch nicht an ganz unverfänglichen, die in gleicher Weise behandelt werden können. Ich nenne beispielsweise das schöne Gedicht das Gewitter," von Schwab, welches gleichfalls aus einer ganz einfachen Notiz eines Tagesblattes sich hervorgebildet hat. Auf welche Weise dies geschehen, habe ich in dem ältern Archiv für den deutschen Unterricht (Ig. 1843, ft. III., S. 34. ff.) zu zeigen gesucht.

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